6857748-1977_22_13.jpg
Digital In Arbeit

Tanz ist sich selbst genug

19451960198020002020

Eine schier endlose Kette von Einfällen, von denen ein jeder Bewegung wird... Einfälle und Ideen, Assoziationen, die John Neumeier kommen, wenn er Gustav Mahlers III. Symphonie hört; Bilder, die sich ihm dabei aufdrängen, die ihn vielleicht sogar bedrängen. Ketten aus Menschen, Pyramiden, die aus Tänzern gebaut werden, Wasserstrudel, in deren Sog alles hineingezogen wird, Engelsgestalten, die durch ein Schlachtfeld schreiten, wenn zu Mahlers Trauermarsch Körper im Gleichklang zucken und gegeneinanderschlagen, erstarren und sich wieder lösen, sich zu einem Knäuel verschlingen und gleichsam explodieren... Und gleichgültig, was Neumeier damit auch alles sagen will: Er tut dies immer mit den Elementen des Tanzes und der Geste, die zu Mahlers Musik Gegenpol ist. Tanz ist sich selbst genug.

19451960198020002020

Eine schier endlose Kette von Einfällen, von denen ein jeder Bewegung wird... Einfälle und Ideen, Assoziationen, die John Neumeier kommen, wenn er Gustav Mahlers III. Symphonie hört; Bilder, die sich ihm dabei aufdrängen, die ihn vielleicht sogar bedrängen. Ketten aus Menschen, Pyramiden, die aus Tänzern gebaut werden, Wasserstrudel, in deren Sog alles hineingezogen wird, Engelsgestalten, die durch ein Schlachtfeld schreiten, wenn zu Mahlers Trauermarsch Körper im Gleichklang zucken und gegeneinanderschlagen, erstarren und sich wieder lösen, sich zu einem Knäuel verschlingen und gleichsam explodieren... Und gleichgültig, was Neumeier damit auch alles sagen will: Er tut dies immer mit den Elementen des Tanzes und der Geste, die zu Mahlers Musik Gegenpol ist. Tanz ist sich selbst genug.

Werbung
Werbung
Werbung

Wie ausdrucksstark, ja dramatisch mitreißend er diese Vorstellung von Tanz und Tanz als Thema schlechthin zu vermitteln vermag, zeigte er nun im Rahmen des Ballettfestivals im Theater an der Wien: Beim Ballettgastspiel der Hamburgischen Staatsoper, die mit John Neumeiers Tanzversion zur Musik von Mahlers „Dritter“ kam.

Für den Amerikaner Neumeier und seine Mahler-Ballette - nach der 1975 uraufgeführten „Dritten“ ist inzwischen auch die „Vierte“ in London dazugekommen - ist das das künstlerische Credo schlechthin: Daß Geschichte, Story und Handlung vom Tanz gleichsam aufgesogen werden, daß Tanz sein eigenes Thema wird. Daß also Tanz in allen stilistischen Spielarten und die optische Sensation, die der Regisseur mit Licht und Farben erzeugt, die einzigen Ausdrucksmittel sind. Und wenn Neumeier einmal ausnahmsweise nach einem historischen oder gar biblischen Stoff greift - wie in Wien nach „Josefs Legende“ - so muß ihn schon eine Idee faszinieren, wie hier, bei Strauss, die Begegnung einer unverstandenen Frau mit einem keuschen Jüngling, um daraus ein Ballett zu machenalso eine von. allen Geschichten und Handlungen, die man da rundherum ranken könnte.

Was an dieser „Dritten Symphonie von Mahler“ so fasziniert, ist vor allem der überbordende Reichtum an tänzerischen Ideen, und wie Neumeier sie mit sparsamsten Mitteln zur großen Vision verflicht. Aber wenn man sich diese choreographische Arbeit genau besieht, so kommt man ihm auch bald auf die Schliche. Etwa wie er sich oft selber kopiert. Wie er gleichsam Zitate aus anderen eigenen Werken hereinholt, schöne Stellungen, Bewegungsfolgen, Gesten ausklügelt, von denen man sicher sein kann, daß er sie vielleicht schon bald in einem neuen Werk wieder benützen wird. Weil er selbst Choreographien ja auch in einem größeren Zusammenhang sieht und man dementsprechend auch sein Werk beurteilen muß.

Jedenfalls hat er mit dieser „Dritten“ den Höhepunkt seiner Vorstellungen von optischer Kultur erreicht. Ein Ballett ohne Bühnenbild, nur mit Lichteffekten angereichert, mit farbigen Horizonten in der Atmosphäre definiert, durch farbige Trikots belebt. Und alle Spannung geht von tänzerischer Meisterschaft, von den fabelhaft präzise wirkenden Ensembleleistungen der Hamburger Kompanie aus. Die technische Exaktheit, mit der diese Tänzer oft höchst vertrackte Figuren ausführen, die Intensität ihrer Szenen und die ästhetische Vollendung suchen wirklich ihresgleichen. Das zeugt von langer Arbeit, von tiefem Verstehen, das diese Kompanie den Konzepten ihres Chefs Neumeier entgegenbringt, von Arbeit mit Hingabe. Tänzer wie Frangois Klaus sind der Beweis dafür. Wie packend dynamisch formt er die Zentralfigur, also den, der alles empfindet, der sich erinnert, an das „Gestern“, an „Sommer“ und „Herbst“, an „Nacht“ und „Engel“ und an. .das, „Was mir die Liehe erzählt“ (die Satztitel). Oder wieviel haben Solistinnen wie die rassige Zhan- dra Rodriguez hier an mitreißender Eleganz, an Temperament und tänzerischer Ausdruckstiefe zu bieten! Sie ermöglichen jedenfalls, daß diese „Dritte Symphonie von Gustav Mahler“ ein ästhetisch perfektes Kunstwerk wird. Ein Meisterstück von unverkennbarem Zuschnitt.

Neumeiers Choreographie - einmal allein, für sich besehen - kann diesen einheitlichen Guß nämlich nicht durchgehend bestätigen. Da kaschiert vielmehr die Paradeleistung des Hamburger Ensembles, wo vom Tanzkonzept her Brüchiges spürbar wird. Brüchiges, Aufbrüche, ein Auslassen des Konzepts, manchmal sogar eine Verliebtheit in zuviele reizvolle Detaüs.

Ungeheuer effektvoll, fast pathetisch, aber eine einzige dramatische Kraftentladung etwa ist „Gestern“: eine Gewaltleistung, die nur zu deutlich werden läßt, wie sich Mahlers Musik gegen das Vertanztwerden sperrt, sträubt und aufbäumt. „Sommer“ nimmt sich dagegen wie eine gewichtlose Tanzspielerei aus, ein Schäferspiel, das in die etwas schleppende Eleganz des „Herbsts“ übergeht. Kostbare Gesten, Attitüden, tiefe Blicke... Oder „Nacht“: eine Hommage für John Cranko. Ein hinreißend klar konstruiertes geometrisches Spiel ohne Musik. Daß Nietzsches Lied „O Mensch, gib acht!“, das später eingeblendet wird, hier synthetisch und aufgesetzt wirken muß, wird kaum jemand bestreiten. Zuckersüß mit Engelsflügelgeflatter gibt sich Neumeier etwa im Satz „Engel“ (Kinderchor: „Es sungen drei Engel“)...

Aber das alles zeigt doch auch, welche Bruchlinie sich durch das Werk zieht. Neumeier kombiniert, tüftelt, deutet eine Menge, assoziiert immer neue Bilder, legt zugleich den Maßstab seiner strengen ästhetischen Normen an. Aber Mahlers Werk, tief und vielschichtig genug, daß noch spätere Generationen daran zu deuten haben werden, ist sich im Grunde selbst genug. Wie Neumeiers Tanz. Mahlers Werk versucht „naive“ Bilder zu provozieren. Der „Wissende“, der Intellektuelle Choreograph Neumeier, versucht ihnen auf die Spur zu kommen. Ist es ein Wunder, daß da eine Bruchlinie spürbar wird, wo jede dieser Welten sich selbst genug ist?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung