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Telefon-Blick- Training
Kein Telefon-Tag mehr ohne Krawatte. Keine vernachlässigte Rasur, keine Grimassen ...
Kein Telefon-Tag mehr ohne Krawatte. Keine vernachlässigte Rasur, keine Grimassen ...
Der Fortschritt überrollt uns und fragt nicht, ob wir ihn brauchen oder wollen. Kein Mensch fragt Sie, ob Sie bei Ihrem liebgewordenen Plattenspieler bleiben oder auf einen CD-Player „umsteigen" wollen. Sie können schon bleiben, aber Platten gibt's keine mehr, außer auf dem Flohmarkt. Früher oder später wird es Ihnen schon zu dumm werden und Sie werden fremdbestimmt zur Arbeitsplatzsicherung in der Elektronikindustrie beitragen. Und wenn Sie schon im Fortschrittsladen sind, kaufen Sie sich auch gleich einen neuen Fotoapparat, denn das Filmformat Ihrer alten Zauberkiste wird immer rarer.
Redet da etwa einer von Konsum-terror? 0 nein, Sie sollen nur begreifen, daß unangepaßte Konsumenten auch unsozial sind. Wo kämen wir denn hin, wenn wir uns nur auf die Versorgung von Oldtimern beschränkten!
Heute können Sie, wenn Sie an die Filmstars von gestern denken,
„schnurlos" in der Badewanne telefonieren. Sie können aber auch als verhinderter Manager Ihr Telefon auf den Schreibtisch stellen und mit dem liebgewordenen Kabel Entfesselungskünstler spielen, von einem Ohr zum anderen wechseln, und dazwischen Männchen malen, Bleistifte spitzen, Bücherstapel hin- und herschieben. Vor allem aber können Sie, während der Anrufer spricht, Grimassen schneiden, sich an die Stirn tippen, jemandem winken und ihm zu verstehen geben, daß Sie den Anrufer für lästig halten. Sie können Ihren Hemdkragen öffnen, die Zunge herausstrecken - und wenn Sie es für lustvoll halten, können Sie sich sogar nackt ausziehen. Kurzum, Sie können eigentlich alles tun, was akustisch nicht wahrnehmbar ist.
Unterschätzen Sie diesen Vorteil des enthemmenden Telefonierens
nicht, denn der Fortschritt, wie oben gesagt, überrollt uns, ob wir wollen oder nicht. Die Zukunft gehört dem Bild-Telefon.
Wir können uns den Fortschritt im Fernseh-Zeitalter auch leicht vorstellen. Der Telefonpartner erscheint auf der Mattscheibe so wie bei Fern-Interviews heute schon in „Zeit im Bild", und wir können von Angesicht zu Angesicht mit ihm reden. Für die Tante Amalie im Altersheim, die ihre Tochter in Amerika noch einmal leibhaftig sehen möchte, ist das sicher die Erfüllung ihrer Sehnsucht. Und für den Teppichhändler, der seinem iranischen Großhändler prüfend ins feilschende Auge blicken will, ist das vielleicht ein Geschäftsvorteil. Für uns aber, die Akustik-Telefonierer, wird das Bild-Telefon eine schmerzhafte Umstellung. Keine Angst, werden da manche meinen, wer nicht will, der muß ja keine Mattscheibe bestellen. Da bin ich nach meinen Erfahrungen mit dem Plattenspieler und dem Fotoapparat nicht so sicher. Eines Tages gibt es eben nur Bild-Telefon, ob Sie wollen und brauchen oder nicht!
Das wird eine Verhaltens-Revolution! Aus ist es mit dem alten Telefon-Schlendrian. Kein Telefon-Tag mehr ohne Krawatte! Keine Zweitbeschäftigung mehr während des Anrufs! Keine abwertenden Gesten! Jedes Gespräch ist ein Auftritt. Mußten Sie ehedem an die Gefahr illegalen Mithörens („Lauschangriff") denken, so droht nun auch noch illegales Mitschauen („Blickangriff').
Die plötzliche Umstellung soll Sie nicht unerwartet treffen. Mein Rat: Trainieren Sie jetzt schon! Verhalten Sie sich beim Telefonieren ganz so, als ob Sie Ihr Gesprächspartner sehen könnte. Kein Meister fällt vom Himmel! Üben Sie, üben Sie! Der nächste Fortschritt kommt bestimmt. Er soll Sie gerüstet finden, total fit, gestylt wie ein Fernsehmoderator. Demnächst eröffnen die ersten Bild-Telefon-Studios, in denen Sie optisch richtiges Verhalten lernen können. Das Geld dafür ist gut angelegt. Dafür wird Sie dann bald ein Meinungsforscher bildlich anrufen und Sie können ihm sagen, daß Sie mit dem Bild-Telefon und dem Fortschritt überhaupt unendlich glücklich sind.
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