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Todesphantasien. Zwei Prosastücke

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Er hatte das Gefühl, in den letzten Jahren allein gelebt zu haben. Wie ein Priester. Ohne jemanden.

Es war, als wäre er die ganze Zeit in einem Sarg gewesen.

Und dieser Sarg stand in einer unendlich großen, langen, breiten, hohen Halle. Nirgends stand ein Körper oder eine Sache in der Gegend. Alles war leer. Unangetastet und still. Das Schweigen der Größe war wie die unheimliche Stille des Todes. Diese Leere erschien ohne jeden Sinn und doch irgendwie durch und durch gerechtfertigt.

Bloß manchmal war von ganz weit weg kurz etwas zu hören. Wie aus einer anderen, aber auf jeden Fall fremden Welt. Eigentlich war nichts zu sehen. Nichts zu spüren. Nichts zu fühlen. Nur diese eisige Kälte, an die man sich gewöhnen konnte. Dieser Zustand war seit je. Er war unverrückbar. Dazu gehörte auch der Ekel. Und zwar ein solcher, wie ihn kaum jemals ein Mensch in dieser Welt empfunden hatte. Ein gelber. Ein durch und durchdringender. In Gedanken stolperte er schon über seine eigene Leichenfarbe.

Erinnerungen gab es keine, außer der einen an die Vergangenheit ohne Bilder. An die Vergangenheit, die nur mit einem einzigen Wort zu bezeichnen war: tot.

Erfahrungen gab es keine, nur ein Schweigen, das aber mächtiger war als jeder andere Wert, den sich jemand hätte vorstellen können.

Schön war nur diese angenehme Leichtigkeit, die jedem Körper und jeder Sache die angeborene Schwere nahm. Der Sieg der Verzweiflung war damit ausgeschlossen -etwas war da, worauf man sich stützen konnte - und in der größten Not berufen. Es war ein süßes Gefühl.

Hier aufgebahrt zu liegen, ohne jemanden, beschämte ihn schon langsam ein bißchen.

Er wollte aufstehen.

Er dachte, seinen Körper hinaus vor den Sarg zu befehlen, damit er den Geist beschütze, den er dort, wo jetzt noch beides war, liegen lassen wollte. Diesem Gedanken widmete er eine unverletzliche Zärtlichkeit, eine unverletzbare.

Noch während er zutiefst gerührt

war, war der Körper auferstanden

und stellte sich vor den Sarg. Für

das erste nur der Körper. *

Sie war so tot, daß sie begraben werden mußte. Ihr Tod war eine Verheißung. Denn sie war in einer Stellung verstorben, die schön anzusehen war: sitzend. Die Beine übereinandergeschlagen. Eine Hand, die linke, auf der rechten Schulter. Und die rechte am Kinn. Die Augen blickten in die Ferne. Weit weg. Über die Vergangenheit hinaus.

Die Menschen sagten: Die Krankheit hatte sich so tief in sie hineingefressen, daß sie nicht mehr herauszuziehen war. Es war die tödliche Langeweile. Hörte man. Denn: Niemand wußte die Wahrheit.

In der Frage ihres Zustandes war sie allen über. Sie hatte ihren letzten körperlichen erreicht. Den, der die Würmer reizt, und an dem sie Anteil nehmen.

Sie würde nie wieder Geräusche machen. Das war leider klar. Ein für allemal.

Hoffnung gab es für sie nicht mehr: weder als Umstand noch als

Stimmung. Der Tod, dieser einzige große Augenblick im Leben, hatte sie verändert. Endgültig: endlich und gültig. Nun war nichts mehr und ihr Mund bis zum Zerfall offen. Die schlechten Zähne waren bloß noch eine Zutat zu diesem grauslichen Totenkopf, aus dem nicht genau herauszulesen war, ob sie mit oder ohne Begeisterung in den Tod und aus dem Leben gegangen war.

Der Tod. War das der Friede? Oder nur das Ende. Oder vielleicht nicht einmal das.

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