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Proteste und Gegendemonstrationen: Ein Marketingkonzept um einen neuen Jesus-Film aus den USA geht voll auf. Hier ein Augenzeugenbericht aus San Francisco.

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Proteste und Gegendemonstrationen: Ein Marketingkonzept um einen neuen Jesus-Film aus den USA geht voll auf. Hier ein Augenzeugenbericht aus San Francisco.

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„The Last Temptation of Christ“ (Die letzte Versuchung Christi), der seit Jahren umstrittenste Hollywoodfilm, läuft seit zwei Wochen in amerikanischen Metropolen. Die Premiere war im Druck von Boykott androhenden Sekten überraschend um nahezu sechs Wochen vorverlegt worden.,

Ich versuchte, die erste Aufführung in San Francisco am 12. August um 13 Uhr zu besuchen. Aber die Schlange an der Kasse war derart lang, daß ich erst zur 16-Uhr-Vorstellung Zugang erlangte.

Die Show vor dem Northpoint Cineplex Odeon war phantastisch und rückte den Film, den sie zu vermarkten hilft, weit in den Schatten.

Etwa ein Dutzend christlicher Kirchen und Sekten sowie einige antisemitische Einzelgänger demonstrierten gegen „Blasphemie“ und „Häresie“.

Ob die Verfilmung des 1955 erschienenen gleichnamigen Bestsellers von Nikos Kazantzakis so viel Aufhebens verdient, sei dahingestellt. „Das Christentum überstand 2000 Jahre, gewiß kann esMartin Scorseses Sechs-Mülio-nen-Dollar-Füm nicht bedrohen“, sagt Sidney Pollak, der Regisseur von „Tootsie“ und „Out of Afri-cat

„All der uninformierte Protest kann nur den Besuch anheben“, meint die „Chicago Tribüne“. „Die Kontroverse um ,The Last Temptation of Christ' ist viel interessanter als der Film selbst“, schreibt die „Minneapolis Star Tribüne“. „Vielleicht könnte kein Film all dem .Hoopla', das ihn umgibt, gerecht werden, aber .Last Temptation' ist leider ein recht langweiliger Film“ (St. Paul Pioneer Press Dispatch).

„Das mag die Bibel gemäß Kazantzakis sein, aber es ist auch eine Bibel ohne Poesie. Der Film ist lang und hat ermüdende Strek-ken, die den Zuschauer eher langweilen als verletzen“ („New York Daily News“). „Mindestens 40 Minuten zu viel“ (Associated Press).

Man könnte ganze Seiten mit mehr oder minder freundlichen Zitaten füllen. Doch fand ich keine begeisterte Kritik, die Lob nicht mit gewichtigen Einwänden aufwiegt.

Zurück nach San Francisco.

Um 13.30 Uhr war die Menge vor dem Lichtspieltheater auf nahezu 1.000 Personen angeschwollen, was dessen Kapazität entspricht. Knapp ein Zehntel davon waren Demonstranten, aber mindestens ein Fünftel die Fernseh-Crews von 16 Aufnahmeeinheiten, Kollegen vom Hörfunk, Reporter und Polizisten.

Das Northpoint-Kino befindet sich einen halben Kilometer vom Fischermen's Wharf entfernt. Das ist eine der populärsten Touristenattraktionen von San Francisco. Ein beträchtlicher Teil der 500 Leute, die Schlange standen, waren Urlauber, die der Rummel angelockt hatte. Manche wußten gar nicht genau, was gespielt wird, und gaben offen zu, daß sie längst die Hoffnung auf Einlaß aufgegeben hatten und bloß blieben, um vom Fernsehen interviewt zu werden.

Als dann die ersten Crew-Wagen abfuhren, begann sich die Menge zu lichten. Der junge Mann, der ein dreieinhalb Meter hohes Kreuz vor dem Kinoeingang aufgepflanzt hatte, kippte es behende auf Skate-Bord-Rädchen und zog von dannen. Die Transvestiten in modisch verbrämter Nonnentracht, die sich „Sisters of the Perpetual Indul-gence“ nennen und gegen die „Zensur“ demonstrierten, gingen in hohen Stöckelschuhen mittag-essen. Ein Chor von Baptisten mittleren Alters ergötzte die Schlange mit erbaulichen Hymnen. Sektierer verteilten Pamphlete, die sogar Leser fanden, weil den Leuten die Zeit lang würde.

Obwohl Erzbischof John Quinn - den Film verurteilend — von Protesten abgeraten hatte, postierte ein greiser Salesianer von St. Peter und Paul ein Häuflein frommer Frauen etwa gleichen Jahrgangs an der Kreuzung, um laut den Rosenkranz zu beten. Im Lichtspieltheater selbst wurde jeder Premierenbesucher von Polizisten gefilzt.

Kazantzakis eigenwilliger Christusroman wurde schon seinerzeit von extremen Fundamentalisten als Satanswerk verworfen. Gulf und Westerns Tochter

Paramount getraute sich nicht, ihre Filmrechte zu nutzen. Als Universal sich mit Scorseses unabhängiger Produktion assoziierte, beknieten einflußreiche Evangelisten das Studio, das Projekt fallenzulassen, und warnten vor einem wirtschaftlichen Boykott sämtlicher von MCA kontrollierten Firmen, wenn Universal, die wichtigste Tochter dieses Konzerns, nicht nachgibt.

Die katholischen Bischöfe, die Lutheranische Synode und andere christliche Gemeinschaften begnügten sich'damit, ihren Glaubensbrüdern vom Besuch des Films abzuraten.

Der kunstsinnige Monsignöre James Gaffy aus San Francisco gesteht, daß er Kazantzakis Roman als Student mit ästhetischem Genuß las. Der Film versündige sich jedoch an der Vorlage. Der Dialog ist unwahrscheinlich banal.

Im Film spritzt viel Blut, werden viele. Gewalttaten ausgewalzt. Die sexuellen Szenen zeigen dagegen Zurückhaltung. Wer sich am Besuch Jesu bei Maria Magdalena begeilen wollte, wird wohl enttäuscht sein. Christus halluziniert am Kreuz, daß er Maria Magdalena heiratet, mit ihr ein Kind zeugt und ein normales Durchschnittsleben führt. Aus der Agonie erwachend, fügt er sich aber in seine historische Rolle.

Während des langen Wartens an der Bay Street beobachteten wir wiedergeborene Christen, die Zeugnis ablegten, daß Jesus Christus sie von Drogensucht und anderen Lastern erlöste. Das kann nicht der Messias gewesen sein, den Scorseses Film (verkörpert durch Willem Dafoe) zeichnet.

So viele Fragen offen bleiben, Wall Street beurteilt das Marketing mit Hilfe von Protesten und Gegendemonstrationen wohlwollend. Der MCA-Kurs stieg in der der Premiere folgenden Börsen-r sitzung um 7/8 Punkte oder fast drei Prozent.

Wie viele gute Christen werden sich das Vergnügen verkneifen, sich aus eigener Anschauung über die „Last Temptation“ zu entrüsten, um genau kalkulierenden Meinungsmanipulatoren einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen?

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