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Träume und Trompeten

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Als der Schnee vom Himmel fiel, wußte Florian, daß Weihnachten nicht mehr ferne sein konnte. Wohl fror das Gebirge schon lange im sprühenden Reif, die Luft, dünn wie die Schneide eines Messers, sang im Wind, und nachts sirrte in den Tümpeln vor der Stadt das Eis; nun aber gab es keine roten Dächer mehr, kein gelbes Laub, keinen blauen Wald — alles wurde weiß. Lautlos kamen ganze Wolken, ein Himmel voll weißer Vögel, hernieder, und mit ihren Federn, leicht wie der Atem auf den Lippen, spielte der Wind.

Florians kleines Herz dröhnte vor Freude, es flog mit ihnen dahin, es sang. Und auch der Himmel wollte, daß es schneite; für hunderte weiße Sterne, die star-

ben, ließ er tausend neue fallen, eine, zwei, drei Stunden und noch mehr.

Wann immer Florian aus dem Fenster der Schule sah, blieb es so. Die Krähen auf den Telegrafendrähten wurden weiß, die Hügel ringsum ertranken im Nebel, und nur noch die Trompete im gegenüberliegenden Schaufenster des Altwarenhändlers blieb unverändert. Sie stand da, wie gestern, vor drei Tagen, fünf Wochen, zwischen einem Akkordeon, einer Flinte und dem Bügeleisen.

Es war nur eine alte Trompete, ein Flügelhorn. Florians Vater hatte einmal eine besessen. Florian kannte seinen Vater nicht, aber von der Mutter wußte er, daß es zu seinen Lebzeiten weit und breit keinen Musikanten gegeben hatte, der das Flügelhorn so zu blasen verstand wie eben er.

Mutter wußte viel davon zu erzählen. Nachts-summte sie Florian damit in den Schlaf. Dann träumte er vom Vater, er hörte ihn spielen, immer — auch heute noch. Er sehnte sich nach der Trompete, die nirgendmehr zu finden war. Er sprach auch zu Mutter von ihr, und sie ging mit ihm zu dem Altwarenhändler.

„Nein“, sagte sie, „das ist nicht Vaters Trompete.“

„Sie kann es nicht sein“, sagte die Mutter bestimmt.

„Warum nicht?“

Die Mutter schwieg. Sie stand da, ihre Augen sahen zwar die Trompete, aber sie wendete sich um, ging ohne ein Wort.

Florian jedoch träumte Nacht für Nacht davon, er wünschte sich Weihnachten herbei, den Schnee.

Auch der Altwarenhändler betrachtete ihn mitleidig:

„Du möchtest also die Trompete.“

„Ja, es geht mir nur um sie.“ Florian war der Trompete nun sehr nahe. Der Händler griff nach der Trompete, er hob sie empor, drehte sie zwischen seinen blaugefrorenen Fingern:

„Es ist eine wertvolle Trompete, eine sehr kostbare Trompete“, sagte er, „da gibt es einen alten Mann, der zweite, mit dem er ein Zimmer im Altersheim teilen mußte, ist gestorben, nun ist er ganz allein. Nun will er das Flügelhorn.“

„Ausgerechnet die Trompete?“ „Er ist wie ein Kind, verstehst du?“

Der Händler nahm den Lappen fort und tat die Trompete auf ihren Platz. Ihr glänzender Leib blendete Florians Augen, aus dem Stück Gold, blank wie ein Spiegel, wuchs ihm das Gesicht des Vaters entgegen. Es waren seine Stirne, seine Augen, der Schnurrbart, das Kinn, wie auf dem Bild über Mut- ters Bett:

„Wie ist der Preis?“

„Ich denke sechshundert. Sechshundert ist nicht zuviel verlangt.“

Außer einem Sack Kastanien und seinem Briefmarkenalbum besaß Florian nichts. Und Mutter glaubte nicht, daß es Vaters Trompete war.

Das Verlangen nach der Trompete wuchs, es begrub ihn wie der Nebel das Gebirge, der Schnee die Stadt. Er träumte nicht mehr von einem Himmel voll weißer Wolken, jetzt waren seine Nächte erfüllt vom blechernen Geschmetter eines ganzen Trompetenorchesters.

Je näher es auf Weihnachten zuging, um so öfter stand er vor dem Altwarenladen:

„Morgen kann es schon zu spät sein“, sagte der Händler, „jeden Tag kommt der alte Mann zu mir, ich habe das Geld gleich beisammen, sagte er, gedulde dich noch etwas. Ja, so ist es, Wort für Wort, jetzt weißt du Bescheid!“

Im Schaufenster stand die Trompete, sie fror, daheim in Mutters Schublade aber lag jener grüne Jutesack, den Vater im Winter stets um seine Trompete gehüllt hatte. Eine Trompete, sagte Vater immer, dürfte nicht frieren, sonst klänge sie hart, spröde wie ein Stück Holz. Sie müßte zwischen den Fingern vibrieren, erglühen, nur dann könnte sie lok- ken, singen, ein kühles Menschenherz bewegen und das träge Blut berauschen.

Am nächsten Tag versuchte er es: Er machte seinen Sack Kastanien zu Geld, fegte den Eislaufplatz frei und sagte zum Maronibrater: Benötigst du niemanden, der dir deine Maroni aufschneidet?

Aber es war nicht leicht, Geld zu verdienen, noch dazu auf diese Art, soviel Geld. Dabei waren die Straßen der kleinen Stadt auch tagsüber mit Tausenden Glühbirnen beleuchtet, große glockenbe- hangene Adventkränze, tanzende Engel schwebten zwischen den engen Häuserschluchten, die Schaufenster prunkten in Gold und Silber, und die Menschen auf den verschneiten Gehsteigen waren mit vielen, geheimnisvollen, das törichte Herz erfreuenden Dingen unterwegs.

Florians kleines, unschuldiges Herz brach an diesem Tag fast entzwei. Er besaß nurt dreißig Schilling und durfte den ganzen Winter über jeden Tag einen Sack voll Maroni spalten. Die Trompete war ihm nun ganz nahe — jetzt aber, als hätte sie der Schnefewind verweht, sah er sie nicht mehr. Sie war fort.

Der Händler hob den Kopf, sein spitzes Kinn stach wie ein Messerrücken in die Luft:

„Heute morgen“ sagte er, „eigentlich bin ich froh, daß ich sie los bin, es war ein gutes Geschäft, ein sehr gutes Geschäft!“

„Es war die Trompete meines Vaters!“

„Nein, es war nicht die Trompete deines Vaters. Ein Mann brachte sie mir und fragte: was gibst du mir dafür?“

„Es war die Trompete meines Vaters!“

Diese Nacht schlief Florian nicht. Zwei Tage blieb es so, die Straßen der Stadt waren schon mit Backwerkgeruch erfüllt, der Gesang der Drei Könige zog mit Weihrauch von Tür zu Tür, und die Menschen entsannen sich wieder des Himmels, da machte sich Florian auf den Weg.

Das Altersheim lag am Rande der Stadt. Die Fenster waren erleuchtet, Greise saßen an den Tischen, an den Öfen, und ihr Haar war weiß wie der Schnee. Ein Gesicht glich dem anderen: Graue Haut wie die morsche Rinde alter Bäume,’ leere Münder, und ihre Hände, von blauen Adern durchzogen, krochen wie die dürren Beine einer müden Spinne über die Brotkrumen auf dem Tisch.

Den, den Florian suchte, fand er vorerst nicht unter ihnen. Als seine Hoffnung schon fast zu Ende war, stand sie vor ihm, die Trompete. Nahe dem Fenster saß ein Mann, er hielt sie auf dem Schoß. Florian preßte das Gesicht gegen die Scheiben, sein Atem beschlug die Scheiben, trotzdem entdeckte ihn der Mann. Er kam und öffnete das Fenster:

„Verschwinde … mach, daß du wegkommst, verschwinde, verschwinde …“

„Es ist nur der Trompete wegen.“

Der alte Mann schlug das Fenster zu. Er kroch die Wände der Stube entlang wie ein Tier im Käfig und warf drohend eine geballte Faust in die Luft. Die Hand des Kindes verharrte auf dem kalten Glas wie ein frierendes Ahornblatt.

Der alte Mann war wütend, er stampfte um den Tisch und kam nochmals heran:

sage, oder soll ich den Hausmeister …“

„Es ist nur der Trompete we- gen …

„Sie gehört mir, ich habe sie gekauft.“

„Es ist die Trompete meines Vaters!“

„Die Trompete deines Vaters, was für ein Narr bist du doch, welch ein Dummkopf. Was kümmert mich dein Vater, ich habe ihn nicht gekannt, ich weiß nichts von ihm.“

„Er war ein großer Musikant, deshalb möchte ich werden wie er. Ich könnte sie dir abkaufen. Jeden Tag bekomme ich fünf Schilling, in zehn Tagen sind es fünfzig, wie schnell sind zehn Tage um!“

Der alte Mann schlug das Fenster zu. Die Scheiben klirrten wie zerborstene Sterne. Florian bebte in der kalten Nacht, das Herz des alten Mannes jedoch begann zu brennen. Der Mann wankte leicht, die Trompete in seinen kalten Händen wurde heiß.

Der Mann bewegte sich nun kaum und dachte immer nur das gleiche: Ein Kind kam durch die Finsternis, als hätte ihm ein feuriger Schweif den Weg gewiesen, ein kleiner Musikant, ein Engel ohne Posaune, eine Sternschnuppe des dunklen, geheimnisvollen Firmamentes, fand mich alten, einsamen Mann, in jenem Augenblick, in dem ich dem Gedanken nachhing, ebenso nutzlos zu sein wie die alte, zerbeulte Trompete in meiner Hand. Dabei habe ich mir als Kind immer eine Trompete gewünscht. Aber ich habe nie eine bekommen. Vor ein paar Tagen konnte ich sie mir kaufen — aber nun darf ich darauf in diesem Haus nicht spielen.

„In meines Vaters Händen hörte sie jeder, die ganze Stadt, alle.“

Der Alte schwieg. Es war ihm bange zumute, er fürchtete um die Trompete, die Kinderstimme bedrängte sein Herz:

„Ich verkaufe nicht“, sagte er, „und komm’ nicht mehr hierher, es ist verboten, ich will nichts mehr davon hören und möchte meine Ruhe haben, verstehst du, meine Ruhe.“

In der Nacht konnte der alte Mann nicht schlafen. Erst am Morgen entdeckte er die Banknote auf dem Fensterbrett. Der alte Mann ließ sie liegen den ganzen Tag.

Am späten Nachmittag begannen sie oben, rundum über den Hängen der Stadt die Glocken zu läuten. Im Speisesaal ragte schon eine Tanne voll Kerzen bis zur Decke, und es roch nach gebratenem Fleisch und Zimt.

Der alte Mann nahm die Trompete, er schob sie unter seinen Rock und ging in den Schnee hinaus. Was ist schon eine Trompete, sagte er, sie ist nur eine Trompete. Eine Trompete bedeutet im Leben nichts, ein Mensch alles. Während er unterwegs war, fielen nun auch die großen Glocken der Stadt in den Choral des Himmels ein, und Erde und Firmament entzündeten sich an dem Gefunkel von Hunderttausenden Sternen.

Da holte er die Trompete hervor und setzte sie an die Lippen. Die Trompete war warm, sie vibrierte, erglühte in seinen kalten Händen. Ausgeruht sehnte sie sich danach, endlich zu spielen. Und sie tat es. Eine wunderliche Melodie erklang, weich und unwirklich wie eine Schneeflocke berührte sie Florians Fenster. Des alten Mannes Brust dröhnte, er konnte nicht aufhören zu spielen. Kindliche Seligkeit lag auf seinem Gesicht, als er die Trompete auf Florians Fensterbrett tat. Sie stand nun da wie eine Kerze, wie ein kleiner Baum aus reinem Gold. Florian richtete sich auf: „Mutter, Mutter“, rief er, „Vater steht vor dem Fenster, hörst du ihn nicht?“

„Nein, es sind die Glocken!“ Florian stieß das Fenster auf, ein Regen von Sternen fiel über ihn: Da stand sie, die Trompete. Er griff nach ihr, umfaßte sie und preßte sie mit der Kraft seiner Arme an sich. ^

Die Mutter kam heran:

„Wie ist das möglich?“

„Es war Vater, ich habe ihn gehört, so spielt nur er. Er hat sie mir gebracht.“

Der alte Mann ging die Straße entlang, der Wind spielte mit seinem weißen Haar, und ein Stern fiel vom Himmel, zog einen Schweif hinter sich her, und die Dunkelheit der Nacht durchdrang der Ruf einer himmlischen Trompete.

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