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Verzweiflung und stille Umkehr

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Es war in meinem zweiten Jahr als Bischof-Koadjutor in St. Pölten. Am Heiligen Abend ging ich, wie gewohnt, beizeiten vor der Mitternachtsmette in die Domkirche in den Beichtstuhl.

Es dauerte nicht lange, und eine männliche Stimme meldet sich aus dem Dunkel: „Ich möchte jetzt noch einmal beichten und dann in dieser Nacht mein Leben beenden.“ Die Stimme war ruhig und sachlich, als ob es sich um die nebensächlichste Angelegenheit handelte. Tief erschrocken in meinem Innern stelle ich die Frage: „Sagen Sie mir doch zuerst, was ist denn so Schreckliches in Ihrem Leben passiert?“ In kurzen Sätzen folgt die Schilderung eines schrecklichen Lebensweges. „Wissen Sie, ich weiß jetzt keinen Ausweg mehr. Ich glaube, die einzige Lösung, die es für mich noch gibt, heißt einfach: Mach Schluß mit deinem Leben!“

Tief ergriffen ringe ich nach Worten. In der halbdunklen Domkirche hatten sich die ersten Besucher der Mitternachtsmette bereits eingefunden. Erwartungsvolles Schweigen erfüllte den großen Kirchenraum. Mit einem Stoßgebet im Herzen schlage ich aufs Geratewohl das Lukasevangelium auf - es war die Stelle Lk 15, das Gleichnis vom verlorenen Sohn.

„Mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden“, so lese ich mit halblauter Stimme und füge, an den Beichtenden gewendet, mit fester Stimme hinzu: „Das ist die Antwort eines barmherzigen Vaters im Himmel, für Sie persönlich in dieser Stunde.“

Nach einer kurzen Pause höre ich ein unterdrücktes Schluchzen auf der anderen Seite: „Ja, wenn ich glauben könnte.“ Meine Antwort: JDas ist für Sie aufgeschrieben. Das ist auch meine Antwort am Ende Ihres aufwühlenden und zu Herzen gehenden Bekenntnisses.“ Noch einmal ein langes Schweigen.

Ich stehe auf, öffne die Tür meines Beichtstuhls, nehme den noch jungen Mann bei der Hand, mit den Worten: „Gehen Sie vor zur Weihnachtskrippe.“ Er tut es. Ich setze mich zurück in das Dunkel des Beichtstuhls und bete ein Stoßgebet für den Mann an der Weihnachtskrippe.

Es ist etwa dreiviertelzwölf, knapp vor Mitternacht. Die große Weihnachtsglocke durchdringt die Stille des Kirchenraumes. Wieder eine kurze Weile. Es klopft jemand an meinen Beichtstuhl. Ich öffne. Eine tränenerstickte Stimme und ein Druck an meiner Hand: „Ich glaube, heute wird zum ersten Mal in meinem Leben Weihnachten.“ Der Sprecher macht kehrt und geht noch einmal nach vorne, auf die Weihnachtskrippe zu. Plötzlich hatte auch ich das Empfinden: so habe vielleicht auch ich Weihnachten noch nie erlebt.

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