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Von Leuten, denen es nicht so gut geht

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„Damals, am Reinhardseminar, da hatte ich wahnsinnige Schwierigkeiten mit den Rollen. Weil sie entweder in rhythmischer Prosa waren oder in Versen. Und da habe ich mir gedacht: Jetzt schreibst dir einmal selbst einen Text. Das waren die «Jagdszenen aus Niederbayern’.“

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„Damals, am Reinhardseminar, da hatte ich wahnsinnige Schwierigkeiten mit den Rollen. Weil sie entweder in rhythmischer Prosa waren oder in Versen. Und da habe ich mir gedacht: Jetzt schreibst dir einmal selbst einen Text. Das waren die «Jagdszenen aus Niederbayern’.“

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Martin Sperr, groß, breit, Wuschel- kopf und braune Augen im lieben Gesicht, zwirbelt seinen Urgroßvaterschnurrbart. Das macht er häufig — es wirkt wie eine Geste unterdrückter Nervosität. Und gleichzeitig wird dem Besucher klar: ganz so einfach ist das wohl nun doch wieder nicht. Ein Stück schreiben und ad hoc berühmt werden — gut! Aber mit dem Ruhm dann fertigwerden, plötzlich hochgeschraubte Erwartungen befriedigen — da fangen die Schwierigkeiten oft erst an.

Martin Sperr hat die erste Phase dieser sprunghaften Publicity bereits überwunden. Vor zwei Jahren, als ich ihn das erstemal besuchte, steckte er noch mitten drinn: Eine

plötzliche Heirat und ebenso plötzliche Scheidung, daraufhin ein mehrwöchiger Sanatoriumsaufenthalt, und bei seiner Rückkehr wiederum Termine, Aufträge, Verpflichtungen. Damals war er gerade dabei, seinen Vertrag als Schauspieler mit den Münchner Kammerspielen zu lösen, er sprach davon, in eine Kommune zu gehen, denn: „Wissen Sie, ich bin nicht gerne allein.“ Jetzt, mit 27 Jahren, wirkt er ruhiger und bestimmter. Nur gewisse Bewegungen und Reaktionen verraten eine ungewöhnliche Labilität, Empfindlichkeit und Sensibilität hinter der massigen Statur des g’standenen Bayern.

„Jagdszenen aus Niederbayern“, die Geschichte eines jungen Homosexuellen, der durch bigotte und intolerante Dorfbewohner zum Mord getrieben wird, ist zu einem der

meistgespielten Stücke auf den deutschsprachigen Theatern geworden. Auch der Film, der danach gedreht wurde und in dem er selbst die Hauptrolle spielt, ist nicht nur von wirklicher .künstlerischer Qualität, sondern brachte außerdem auch noch einen Kassenerfolg.

Die „Jagdszenen" sind der erste Teil einer Trilogie, die sich vom Dorf über die Kleinstadt bis zur Großstadt zieht, und dem Thema „zwanzig Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte“ gewidmet ist. Sie sind gleichzeitig wahrscheinlich das Beste, was Martin Sperr bis jetzt geschrieben hat. Weder in „Landshuter Erzählungen“ noch in „Münchner Freiheit“ erreicht das Geschehen

diese Dichte und Unmittelbarkeit. Es scheint, als habe Sperrs Fähigkeit der saftig-deftigen Beschreibung abgenommen, je weiter er sich vom dörflichen Milieu entfernte. Schon in „Landshuter Erzählungen“, wo der Sohn eines Baugeschäftsunternehmers seinen Vater erschlägt, weil dieser die Heirat mit der Tochter des reichen Konkurrenten verhindern will, fehlt jene unmittelbare Brisanz, die Sperrs Erstling auszeichnet. Und in „Münchner Freiheit“ schließlich, einem Stück, das in der Großstadt spielt, sind die Theorien jugendlicher Linker vollends unglaubwürdig geworden. Sie wirken kraftlos und das Milieu, in dem sich eine reiche Snobiety bewegt, wenig überzeugend.

Ein wirklicher Wurf ist Martin Sperr erst wieder mit dem „Räuber

Mathias Kneissl“ gelungen, der, von Reinhard Hauff verfilmt, sicher zum Besten gehört, was der deutsche Film in der letzten Zeit produziert hat. Es ist die authentische Geschichte des bayrischen Volkshelden Mathias Kneissl, der mit sechsundzwanzig Jahren zu Beginn unseres Jahrhunderts in Augsburg hingerichtet wurde. Die Geschichte eines gejagten und gehetzten, ein armseliges Dasein verteidigenden Menschen, frei von Heldenromantik und Illustriertensensation, schlicht und einfach erschütternd. Weil er als halber Italiener und Verwandter des „Räubers“ Johann Baptist Pascolinl im Dorf verfemt war und keine Arbeit mehr bekam, wurde er zum Wilderer, Einbrecher und erschoß schließlich zwei Polizisten. Eine Entwicklung, die konsequent von Vergehen wie dem „Besuch einer öffentlichen Tanzmusik“ und wiederholter „Schulversäumnis“ bis zum Mord läuft, weil ein Mensch an der mitleidlosen und intoleranten, in starren Vorurteilen verharrenden Umgebung zerbricht.

Martin Sperrs Stücke sind bestimmt vom Mitleid. Mit den Armen, vom Schicksal wenig Begünstigten, den Ausgestoßenen, den Minderheiten. Das Problem der Freiheit spielt dabei eine besondere Rolle. Und wie durch Unterdrückung und Benachteiligung psychische Mechanismen frei werden, die zu Aggressionen führen. Das bedeutet keine Schwarzweißmalerei. Denn Sperr hat eine gute Portion satirisches Gift bei der Hand, das er gleichmäßig nach sämtlichen Richtungen hin verspritzt. Und seine Lust am Aufzeigen menschlicher Laster und Schwächen macht auch vor dem Opfer nicht halt. Aber, wie er selbst sehr richtig sagt, liegt ihm die Beschreibung Von „Leuten, denen es nicht so gut geht“ mehr als die Darstellung eines saturierten Wohlstandsmilieus. Und auch, wenn es zu sehr ans Theoretisieren geht, verliert das Geschehen an Farbigkeit. Er kann sich dann auch nicht mit einem eleganten sprachlichen Virtuosentum oder parodistischem Schnellfeuer aus der Affäre retten. Bei aller satirischen Veranlagung, die seinen Stücken Witz und Schwung verleiht, ist er vor allem Volksstückautor. Seine Gestalten sind schwerblütig und im Dialekt, im warmen Pelz ruppiger Wirtshausstubenatmosphäre zu Hause. Er ist damit einer der ersten dieser jetzt so plötzlich ins Kraut schießenden jungen Autoren aus dem süddeutschen Raum gewesen, die einem neuen Naturalismus auf die Bühne geholfen haben.

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