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Weder Massen noch Macht

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Der Erfahrung folgend, daß Gegensätze schärfer hervortreten, wenn man sie einander gegenüberstellt, heben sich nachstehend Gedanken zu den Jahren 1848 und 1877 von solchen zum Jahre 1974 ab.

Im Revolutionsjahr 1848 trat in Frankfurt, dem Sitz des Deutschen Bundes, eine Versammlung von Volksvertretern zusammen, die im gesamten Gebiete des Deutschen Bundes nach allgemeinem, gleichem und direktem Wahlrecht gewählt worden waren; ihre Absicht war, eine Verfassung zu beraten und zu beschließen, nach der ein Bundesstaat den Deutschen Bund ersetzen sollte. Bedeutende österreichische Abgeordnete waren unter anderem der nachmalige Bischof von Sankt Pölten, Dr. Josef Feßler, der Propst von Sankt Florian, Jodok Stulz, der Tiroler Benediktiner Beda Weber. Ein anderer Geistlicher fiel in der Frankfurter Nationalversammlung durch seine Beredsamkeit und politische Begabung auf: Emmanuel von Ketteier, der zuvor Jus studiert und dem preußischen Staat als Beamter gedient hatte.

Ebenfalls im Revolutionsjahr 1848 fand die erste „Generalversammlung der Katholiken Deutschlands“ statt; sie war die Vorgängerin der seit 1880 alljährlich abgehaltenen Katholikentage, die das Ansehen der katholischen Kirche hoben und die Stellung der ihr nahestehenden parlamentarischen Vertreter stärkten. Noch als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung hielt Ketteier im November und Dezember 1848 im Mainzer Dom Predigten über „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart“, die im Druck erschienen und den Herausgeber der „Wiener Kirchenzeitung“, Sebastian Brunner, veranlaßten, die Not der Arbeiter zu schildern. 1850 zum Bischof von Mainz berufen, wurde Ketteier der namhafteste Vertreter der christlichen Soziallehre in Deutschland. Ihr wandte sich unter Kettelers Einfluß Karl Vogelsang zu; er kam 1859 nach Österreich und übernahm 1875 in Wien die Leitung der Tageszeitung „Das Vaterland“. Sein Bemühen, soziale und wirtschaftliche Fragen nach christlichen Grundsätzen zu lösen, fand Anerkennung und Förderung, als in Wien vom 30. April bis zum 3. Mai 1877 der „Erste Katholikentag für die ganze Monarchie“ versammelt war; bei der Schlußkundgebung trat Alois Prinz von Liechtenstein entschieden für „dde verarmte, bedrängte und erschöpfte Masse des arbeitenden Volkes“ ein.

So wurde der Katholikentag von 1877 in Österreich zur Geburtsstunde jener Bewegung, die nach dem Zeugnis von Otto Bauer „zum erstenmal in Österreich große Volksmassen in das politische Leben geführt“ hat.

Im Gegensatz zu 1848 in Deutschland und 1877 in Österreich geht es 1974 beim österreichischen Katholikentag nicht um Massen und Macht, nicht um Parteien und Politik, nicht um Ansehen und Einfluß; nicht um Größe und Bedeutung; nicht um Forderungen nach außen, sondern um Anrufe nach innen; nicht um Aufsehen erregende Ereignisse, sondern um kleine Schritte; nicht um äußerliche Feierlichkeiten, sondern um innerliche Festigung.

Der österreichische Katholikentag 1974 soll weder großartig noch prächtig, wohl aber erhebend und eindrucksvoll verlaufen. Beispielhafte Realisierungen des Versöhnungsgedankens wären ebenso ein Erfolg wie das Innewerden der Kraft, die befähigt, mit Konflikten zu leben, wo sie nicht zu lösen sind.

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