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Weihnachten wie noch nie

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Wieso kommt die Vorfreude auf Weihnachten heuer so langsam über mich, so zögernd, so - ich weiß gar nicht, wie ich's ausdrücken soll. Meine innere Unruhe läßt kein Gefühl aufkommen, das zart und zerbrechlich ist. Krieg, Haß, von Angstmachern geschürte Angst, das ist es, was alles andere verdeckt, zubetoniert, verschüttet. Diese Vorweihnachtszeit ist nicht vergleichbarmit allem, was ich bisher erlebt habe. Das Kind, das das Christ-kindl suchen ging - im Urban- Loritz-Park im siebenten Wiener Bezirk, der junge Bursch, der sich vor dem Heiligen Abend nachmittags noch schnell mit seinem Mädl traf, um ihr schüchtern ein Packerl in die Hand und ein Bussl auf die Wange zu drücken, der Soldat, der nicht nur vor Kälte zitternd im Schneeloch hockte und an zu Hause dachte, der immer wieder Gefangene, der nur einen Wunsch hatte - Schluß, endlich Schluß - sie alle sind verblaßt, sind nicht mehr ich, sind kaum mehr Erinnerungen. Ich habe Weihnachten als junger Vater gefeiert, als Opapa, als Trauernder, als Verzweifelter, als weich und hart gestimmter Mann. Aber heuer - heuer ist alles so anders, so neu, so beängstigend.

Es kracht überall in allen Fugen, die einst die Welt zusammenhielten. Der „reale Sozialismus" ist erledigt, der Kapitalismus ins Wanken geraten. Bis auch er ins Meer der Geschichte stürzen wird, werden noch Jahrzehnte (?) vergehen und dann wird es noch lange dauern, bis eine brüderliche Welt zu sehen sein wird. Vielleicht bedrückt mich das Wissen, daß bis dahin noch Ströme von Blut fließen, Hektoliter von Tränen geweint werden müssen, so sehr, daß - vielleicht verstellen die Kulissen des Krieges die Aussichten auf ein besseres Morgen - was weiß ich? Ich weiß, daß Menschen leiden, flüchten, frieren, daß Menschen Schmerz empfinden, Wut fühlen und verzweifelt sind. Weiß, daß alle Deklarationen sinnlos sind und nicht beachtet werden. Kulturdenkmäler, viersprachig bezeichnet, werden zerstört, Bibliotheken brennen, Bilder verglosen. Aber was ist das alles gegen das Leben eines Menschen. Gegen seine Todesangst, seine Schmerzen, seine Verzweiflung?

Ich bete, ich bete gern, ich bete viel

- so für mich und meinen Herrgott, aber ich frage mich oft, wieso läßt er das alles zu? Es gibt - ich weiß es -genug theologische Erklärungen, aber was nützen sie mir, wenn ich sie nicht akzeptieren kann? Ich sehe wie jeder, der schauen gelernt hat und erschauere. Noch trifft es uns nicht. Noch glauben die Wanderhändler der Intoleranz Mauern des Hasses errichten zu müssen, uns abschotten zu sollen gegen das Leid und die Lebensgier anderer, die Hunger haben - auch Hunger nach Freiheit, die ihnen, so wie die Freiheit von Angst feierlich garantiert wurde. Was wird in einer anderen neuen Kristallnacht brennen? Wie wird das Ende der neuen Herrenmenschen sein? Sechs Jahre nach der Reichspogromnacht war Deutschland vernichtet. Stand auch Österreich nur auf, um wieder zerbrochen zu werden?

Hoffen auf ein Wunder Ich weiß wohl, daß das keine weihnachtlichen Gedanken sind, aber was soll ich tun - sie haben von mir Besitz ergriffen. Ich würde auch lieber mit Hoffnung ins Licht der Kerzen sehen, würde schon jetzt gern den Duft grüner Zweige riechen und zartes Glok-kenläuten ahnen. Doch es wird heuer eines Weihnachtswunders bedürfen, um mich aus dem tiefen Brunnen der Resignation zu ziehen. Ich kann nur hoffen! Auf die Vernunft der Menschen und Gottes Gnade. Vielleicht beginnt mit dem Anzünden der ersten Kerze auf dem Baum sich auch das Licht der Erkenntnis über die Menschen zu ergießen. Vielleicht schnürt ein Gefühl der Rührung manche Kehle so eng zu, daß dem Munde keine Haß-tiraden mehr entströmen können. Vielleicht besinnen sich die Verantwortlichen darauf, daß mit dem Verteufeln der Andersdenkenden der Gott der Liebe verraten wird. Vielleicht steigt mit dem Weihnachtsgefühl auch die Schamröte in die Gesichter der Hemmungslosen. Es wäre Zeit, daß sie Angst bekämen vor denen, die jetzt Angst haben. Ich horche in mich hinein und staune. Irgendwo hat sich noch ein Funke Hoffnung versteckt.

Lieber Gott, der du gebaut hast diese Welt - tu was, laß' - wenn schon nicht die Liebe, so doch wenigstens die Vernunft siegen. Ich weiß, das ist viel verlangt, aber es ist ja Weihnachten und da darf man sich doch was wünschen?

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