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Wie vom Erdboden verschluckt
Ich möchte mich an etwas erinnern, aber ich weiß nicht, woran. Da ist immer dasselbe Bild, das vor meinen Augen auftaucht. Ein Bild vom Sommer. Nachmittag, die Erde glüht, alles scheint zu schlafen. Nur ich bin hellwach. Ich sitze auf einem Stein und grabe meine kleinen Füße in die Erde. Es ist sehr heiß. Ein Käfer krabbelt über meine Zehen, dann ist er spurlos verschwunden. Ich will ihn suchen, aber etwas zieht an meinen Füßen und zieht mich tiefer hinunter. Ich bin schon fast bis zu den Knien im Boden versunken. Hilfe, rufe ich laut, aber es tönt leise. Die Sonne beißt nicht mehr, sie ist müde. Bald wird sie untergehen. Ich bin jetzt bis zum Brustkorb eingesunken. Ein Hund schnuppert neugierig an mir, dann rennt er weiter. Nun schaut nur noch mein Kopf heraus. Es wird dunkel. Das Rauschen im Kornfeld macht mir Angst.
Mohnblumen sind Hexen mit roten Augen. Sie wissen alles und erzählen es sogleich weiter, darum heißen sie Klatschmohn. Wenn sie es meinem Vater erzählen, wird es schon zu spät sein. Er kommt jeden Tag hier vorbei. Bei seiner Arbeit im großen Haus dort drüben trägt er einen weißen Mantel. Dann sieht er ganz anders aus. Manchmal fürchte ich mich vor ihm. Er macht Menschen auf, aber nicht mit dem Messer. Dann schaut er tief in sie hinein. Was er sieht, weiß ich nicht. Wenn er mich jetzt nur sehen könnte! Über mir flattert ein weißer Kittel, dann versinke ich ganz.
Es ist gar nicht so schlimm, hier unten bei den Wurzeln. Ich gewöhne mich langsam an die Dunkelheit. Nur das viele Stolpern macht mir noch Mühe. Meine Eltern haben die Suche aufgegeben. Es hat keinen Sinn mehr. Jemand sagte gestern im Dorf: „Das Kind ist wie vom Erdboden verschluckt".
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