Ewige Ruhe?

19451960198020002020

Ein Versuch, in einer Erzählung auszudrücken, was jenem "Ötzi" genannten Menschen im Laufe der Zeit(en) so durch den Kopf gegangen sein mag.

19451960198020002020

Ein Versuch, in einer Erzählung auszudrücken, was jenem "Ötzi" genannten Menschen im Laufe der Zeit(en) so durch den Kopf gegangen sein mag.

Werbung
Werbung
Werbung

Ruhe. Ruhe für immer. Das war es, was ich mir gewünscht hatte, als ich damals dort hinaufging. Letzte Ruhestätte. Ich hatte sie gefunden. Hoch oben. Ich brauchte mich nur noch hinzulegen, konnte sicher sein, nicht gefunden zu werden. Kein Mensch verirrte sich hierher, schon gar nicht im Winter. Wozu auch? Ich habe ihnen gesagt, daß ich auf die Jagd ginge. Der spinnt, haben sie gemeint. Aber das war man von mir gewohnt. Ich habe immer getan, was ich wollte, bin immer aus der Reihe getanzt, habe nicht zu ihnen gepaßt. So habe ich mir auch ausgesucht, wann ich damit aufhöre und wie. Bin hinaufgegangen an einem Tag, der nicht zum Gehen einlud. Unten war es feucht und kalt. Oben hat man die Nebel ziehen gesehen, vielleicht auch Schnee. Ich habe den Bogen genommen, ein paar Pfeile im Köcher und bin los. Die Leute haben den Kopf geschüttelt, wie immer. Unterwegs hätte ich gute Beute gesehen, aber wozu? Immer weiter bin ich hinauf, bin oft gerutscht, niedergefallen, aufgestanden, hinauf, nur hinauf. Als ich den Wald hinter mir gelassen habe, hat es zu schneien begonnen. Leicht sind die Flocken niedergeschaukelt, als ob sie mir noch einmal was vortanzen wollten. Eine Zeitlang hab ich ihnen zugeschaut. Immer froher bin ich dabei geworden, immer sicherer. Bald war ich zwischen den Felsen. Ich war müde. Nicht nur vom Aufstieg. In letzter Zeit war ich immer müde. Faul ist er, haben die anderen gesagt. Schief angeschaut haben sie mich dabei. Das hat mir nichts ausgemacht. Nur wenn sie so geschaut hat, ist es mir heiß durch den ganzen Körper gegangen. Sie hätte nicht so schauen sollen, sie nicht. Ich war müde und so hab ich mich in die Mulde gelegt. Der Felsen hat mich vor dem Wind geschützt und hätte mich doch nicht zu schützen gebraucht. Hingelegt hab ich mich und mich auf die Ruhe gefreut. Es hat mehr und mehr geschneit. Warm ist mir geworden und kalt zugleich. Die Augen geschlossen, hab ich viel mehr gesehen als bisher. Weit in die Täler hinein und über die Berge, wo es blau war und sonnig.

Und jetzt, wo ich geglaubt habe, am Ziel zu sein, jetzt ist es wieder kalt. Eine Sonne greift mir in die Augen. Ich möchte die Lider schließen und kann nicht. Das Licht dieser Sonne wird mich auffressen, es kriecht durch meine Augen und wird mich aushöhlen, wird mich leerfressen, bis nur noch eine Hülle von mir da ist, die durch das Licht aufgeblasen wird. Ich möchte nicht im Licht sein, das Licht soll mich in Ruhe lassen, ich will kein Licht! Ich höre Stimmen. Sie werden mich doch nicht holen, herausholen, wegholen von meinem Ruheplatz. Oder haben sie mich schon fortgebracht? Was ist mit dieser Sonne, warum geht sie nicht unter? Diese Stimmen! Laßt mich in Ruhe, laßt mich weiterträumen, laßt mir meinen Frieden!

Ich habe geglaubt, sie würden mich hier heroben nicht finden und jetzt bin ich ihnen doch in die Hände gefallen. Aber es sind nicht die vom Dorf. Ihre Stimmen würde ich erkennen, nein, es sind fremde Stimmen und es ist eine fremde Sprache. Sie müssen von weit her sein. Warum haben sie gewußt, daß ich hier bin? Jetzt werden die Stimmen leiser, sind ganz verstummt. Aber die Sonne! Sie werden wiederkommen. Sie werden mir keine Ruhe mehr lassen. Sie werden mich bis an ihr Ende dieser Sonne aussetzen. Und ich kann mich nicht wehren, kann nicht weggehen, wie damals. Ich muß bleiben, hier liegen, wie ich oben gelegen bin, nur die Ruhe ist weg. Wer kann das machen? Wer hat die Macht, mich zurückzuholen und doch nur liegenzulassen?

Sind es die Götter, bei denen ich nun bin? Aber weshalb liege ich dann hier? Warum sitze ich nicht mit ihnen um den Tisch in der blauen, sonnigen Weite, die ich gesehen habe? Es war eine andere Sonne, eine mildere Sonne, deren Licht mich sanft umfängt, die nicht Besitz ergreift von mir, mich aussetzt und keine Wärme spendet. Je länger aber diese Sonne scheint, desto kälter wird es. Eine Sonne, die tausend Augen zu haben scheint, die mich mit diesen Augen auffrißt, mir meine Ruhe nimmt, die ich schon erreicht zu haben glaubte.

Das haben nicht einmal unsere Priester gewußt, sie haben niemals davon gesprochen. Ich habe etwas falsch gemacht, ich müßte nochmals beginnen können. Laßt mich in Ruhe! Geht! Geht weg mit euren Stimmen! Geht fort und nehmt diese gräßliche Sonne mit. Geht und laßt mich endlich in Ruhe! Geht! Geht! Geht!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung