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Wintermärchen

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In Golling waren die beiden Frauen zugestiegen, und an eine Fortsetzung der Lektüre war wohl nicht mehr zu denken. Draußen wuchsen vereiste Felswände gegen den Himmel, winterlich kühles Licht blitzte hinab in kahle grauen Schluchten, einsame zerzauste Bäume entledigten sich plötzlich ihrer Schneelast. Hier herinnen, im Abteil, breiteten sich Gesprächsteile und Butterbrotpapiere gleichmäßig nach allen Richtungen aus. Archaische Ängste vor den spukhaften Gewalten des modernen Eisenbahnverkehrs und vor dem rettungslosen Verlorengehen im Dickicht der Fremde entlud sich unbewußt in hemmungsloser Eßgier.

Sie frage sich, meinte die eine der beiden Frauen, und sie fragte es sich denn auch rhetorisch mehrmals zwischen zwei Wurstscheiben, warum man den „Aw’rad" eigentlich angeschafft habe. Richtig, pflichtete die zweite bei, es sei nichts damit und was „die“ einen auf dem Bildschirm zeigten, sei nichts als Blödsinn. „Der Mann“ habe, seit der Wirt einen Aw’rad besitze, immer wieder „Zeit im Bild" sehen wollen, aber man frage sich nun doch allen Ernstes, wozu das gut sei, da er, „der Mann", sich dabei doch so fürchterlich ärgern könne, denn nun wolle er sie wieder erst recht nicht sehen, die er vorher unbedingt habe sehen wollen, und so bekomme er stets, Unflätiges murmelnd, einen roten Kopf und schalte ab und schalte gleich darauf wieder ein, fluchend, und was er nun eigentlich davon habe, dürfe man ihn erst recht nicht fragen. Anders der Sohn, der schaue sich den Sport an, womit er recht habe, denn wozu sich ärgern, besser, sich freuen, nicht wahr?

Der Zug schraubte sich bedächtig empor zum Gasteiner Tal. Bis ins Abteil spürte man jetzt die klare, harte Luft des Hochgebirges, die imstande ist, Gespenster zu verjagen und Tote zu erwek- ken. (Daß sie wie französischer Champagner schmecke, ist eine Erfindung Peter Alternbergs.) In mir erstand die Erinnerung an all die winterlichen Übertragungen von Skikonkurrenzen — Slalom, Abfahrt, Riesentorlauf, Springen — an diese Reportagen mit ihrer immer perfekteren Technik, mit ihrer Dramatik des Schnitts, der Zeitlupe, des Teleobjektivs, mit ihrer überhöhten Lebendigkeit des Tons, dem Zischen des Schnees, dem fliegenden Atem der Läufer, der sich zuletzt, wenn die Spannung zu Ende ist, in einen Schrei entladen kann…

Daß man gegen Peter Alexander allerdings nichts sagen könne, drang während dieser Träumerei in mein Bewußtsein. Denn der verstehe was und könne was und der singe immer auch Sachen, die was man selber kennt. Und der Radetzkymarsch … Sie hatten nichts bemerkt. Sie hatten gegen den abscheulichen Mißbrauch altösterreichischer Uniformen für den Auftritt eines bundesdeutschen Musikzugs mit Schellenbaum (oh Sakrileg!) nicht das geringste einzuwenden und nichts gegen die Ansiedlung des Wolf- gangsee-Rößls in einem verballhornten Oberbayern, nichts gegen Gänsefüßchentrachten, die bis in die letzte unösterreichische Feder am Hut auf eine Art verkitscht waren, daß unsere bayerischen Freunde und Nachbarn ihrerseits rechtens nur mit Wutgeheul antworten konnten. Doch nein — die beiden Frauen waren zufrieden.

Nicht zufrieden waren sie mit einer Sache, die einst, dem Hörensagen nach, in Salzburg gespielt haben mochte, von der aber lange nicht zu erraten war, was und wer damit gemeint sein konnte. Draußen weitete sich unterdessen das Tal, weiß, glitzernd, sonnenerfüllt, von einem seidenblauen Himmel überwölbt. „Und stellen S’ Ihnen vor, der soll es mit der Schwester gehabt haben.“

Ein elektrischer Schlag durchfuhr mich. Georg Trakl! Das also war der Eindruck, den die beiden Frauen (und wie viele noch?) von jener Sendung empfangen hatten, die einem unserer größten Dichter hatte gerecht werden wollen und nicht gerecht hatte werden können. Wo blieben damals seine größten Verse? Wo diese ungeheure, unverwechselbare Melodie, die dunkle Blütenpracht, die Trauer, die nächtlichen, bestürzenden Farben? War von einem Dichter die Rede gewesen? Oder nur von einem armen Kranken? Nicht einmal sein Name war seit damals bei jenen hängen geblieben, die bisher nichts von ihm gewußt hatten, nicht einmal ein fernes Echo seiner Sprache und seines Tuns, nichts. Die mißverstandene „bleiche Schwester" war umgegangen, eine stumme Gestalt, die niemandem etwas zu sagen hatte. Niemand war da erschrocken, daß am Ende, in Grodek, „alle Straßen in Verwesung" münden mußten.

Alle Straßen des Kurorts münden in Sportanlagen und Skiwiesen. Das Taxi kämpft sich, vom Bahnhof kommend, durch bunte Scharen: auf Brettern gleitende, Bretter schulternde oder nur neben abgestellten Brettern untätig herumlungernde Gäste. Was nun kommt, will gelernt sein: Kurhotel, Nichtstun, Erholung, Urlaub, Schlepplifts, Skiwiesen (nicht zu steile!), Mahlzeiten, Wandern, Schauen, Atmen. Langer, tiefer Schlaf? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Denn es gibt einen Fernsehapparat und es gibt Abende, an denen eigentlich schon das Lesen zu mühsam wird. Und am Heiligen Abend, vor der Bescherung, gibt es wieder eine Folge des Pan Tau, dieser sehr liebenswürdigen Sendung für uns, die wir gerne wieder Märchen hören möchten. Märchen, die durch viele originelle Tschechen, viele geschickte Deutsche, mehrere hinterdenkliche Österreicher mitsamt einem Prinzen Rohan zu einer halben Wirklichkeit gestaltet wurden, was eben, betrachtet man nur dieses Zusammenwirken so und nicht anders und heutzutage, wieder ganz und gar einem Märchen gleichkommt. Freilich, es geschieht das alles für die Kinder und für uns, die wir gerne für eine halbe Stunde Kinder sein möchten. Und Weihnachten steht ja immerhin vor der Tür.

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