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Wohnkomfort 1984

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In der Zeit des Wiederaufbaus erfreute sich eine Sorte von Witzen besonderer Beliebtheit: die Neubauwohnungswitze. Sie nahmen entweder Mängel in den Installationen auf's Korn oder machten sich über die dünnen, hellhörigen Wände lustig. Heute ist aufgrund des gewaltigen Fortschritts, den uns die Technik auch auf diesem Gebiet beschert hat, Witzeleien dieser Art jedwede Basis entzogen. Ausnahmen bestätigen nur die Regel und schaffen jenen überaus erwünschten kleinen kreativen Freiraum, der es verhindert, daß ein überzüchteter Perfektionismus in eine Versklavung an die Technik umschlägt.

Solcher Freiräume erfreue auch ich mich in meiner Behausung. Es ist eine Eigentumswohnung in einem 14-geschossigen Haus und mit allen Annehmlichkeiten versehen, die den unverzichtbaren Standard mitteleuropäischer Wohnkultur ausmachen — selbstredend auch mit zentraler Warmwasserversorgung, die es mir gestattet, zu jeder beliebigen Zeit über warmes Wasser zu verfügen. Das heißt, wenigstens laut Vertrag und in der Theorie. Was die Praxis betrifft, so ist freilich diese abundante Verfügbarkeit streng genommen nur dann gegeben, wenn sich außer mir niemand im Haus aufhält respektive Warmwasser benötigt (ein Fall, der in einem Haus mit 54 Wohnungen eher selten eintritt). Wird nämlich außer bei mir noch in einer anderen Wohnung Warmwasser entnommen, dann sinkt einleuchtenderweise der Druck (und zwar proportional zur Anzahl der Benutzer), und dann ist das Warmwasser kalt.

Aber hier kommt eben der kreative Freiraum ins Spiel, von dem bereits die Rede war. Ich habe nämlich folgendes herausgefunden: das Warmwasser am Waschbecken ist zwar praktisch immer kalt, aber nur dann, wenn man es allein aufdreht. Betätigt man hingegen zugleich den Warmwasserhahn der Badewanne, dann wird es lauwarm, ja, manchmal geradezu warm (und nach 23 Uhr mitunter nahezu heiß!).

Leider funktioniert dieser Trick in umgekehrter Richtung nicht. Es nützt also nichts, das kalte Ba-dewannenwarmwasser dadurch wärmer machen zu wollen, daß man gleichzeitig das Waschbek-kenwarmwasser aufdreht. Auf diese Weise erhält man wiederum nur warmes Waschbeckenwarmwasser, und das Badewannen-warmwasser bleibt so kalt wie zuvor.

Aber die menschliche Natur — anpassungsfähig und für den Lebenskampf gerüstet, wie sie ist — zeigt gerade in solchen Situationen, zu welchen evolutiven Leistungen sie fähig ist. Die meine zum Beispiel wuchs an dieser Schwierigkeit, indem sie die Sinne schärfte. So erlauben es mir heute feinste Veränderungen in den Geräuschen und Vibrationsfrequenzen im Leitungssystem, zu erkennen, wann sich die Druckverhältnisse zu meinen Gunsten verändern.und die Aussicht auf zumindest lauwarmes Badewannenwarmwasser eröffnen.

Mit Hilfe dieser meiner beträchtlich verfeinerten Sinneswahrnehmung ist es mir bereits zu wiederholten Malen gelungen, die Eiszapfen an der Brause zum Schmelzen zu bringen.

Übrigens nehmen sich heutzutage auch der Badezimmer-Accessoires Designer an, um auch unsere engere Lebensumwelt unter ästhetischen Gesichtspunkten zu gestalten. Bei meiner Badewanne etwa gibt es einen Stift, der, herausgezogen, das Wasser in den Wasserhahn und, hineingeschoben, in die Brause lenkt. Dieser Stift ist in der ästhetisch perfekten Form eines makellosen Zylinders ausgeführt. Das bringt es zwar mit sich, daß man ihn mit nassen Händen nicht zu fassen kriegt, aber ich muß zugeben, er ist unvergleichlich schöner als die unförmigen Dinger von früher!

Und dann erst die heutigen Betonwände, die wie für die Ewigkeit gebaut sind! Ihre Schalleitfähigkeit ist geradezu phänomenal. Sie erlauben es mir, auch noch die Pianissimo-Stellen jener Haydn-Sonate, der die Klavier spielende Tochter vier Stockwerke unter mir seit Monaten vergeblich beizukommen versucht, in einwandfreier Stereoqualität zu erleiden — äh, erleben.

Aber noch ein weiteres positives Element kommt ins Spiel. Denn wie wären mir ohne alle diese Gegebenheiten wohl jemals die yn höchsten Maß interessanten Aufschlüsse über die Interna einer psychiatrischen Klinik zuteil geworden, ohne die Notwendigkeit eines stationären Aufenthalts, die sich im Anschluß an meinen Tobsuchtsanfall ergeben hatte? Ja, ich gehe soweit, zu sagen: ich verdanke es meiner Wohnung, wenn ich heute alle Tiefen und Untiefen meiner Seele ausgelotet habe und eben im Begriff bin, die Kunst zu erlernen, wie man Unbill durch den Geist beherrscht. Als erste Ziele habe ich mir gesetzt, mir vorzustellen, daß kaltes Wasser warm ist und daß unter mir Rubinstein spielt.

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