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Woran Josef K. schuld war

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Franz Kafka wird nicht unaktuell: Die Weltgeschichte selbst sorgt dafür, daß die Themen seiner Werke hochinteressant und aktuell bleiben.

Sein berühmter Roman „Der Prozeß” ist das deutlichste Beispiel dafür. Schon der erste Satz dieses Werkes konnte in Zeiten totalitärer Regime wie ein Alarmsignal wirken: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.” Wer dachte da nicht an die Verhaftungen durch die Gestapo und später durch den KGB in den Jahrzehnten des stalinistischen Terrors?

Natürlich war Josef K. unschuldig, das ging ja, so meinte man damals, ganz klar aus dem Roman hervor. Nie war es zu einem ordentlichen Verfahren gekommen, nie hatte es ein Urteil gegeben. Die Hinrichtung erfolgte als Gewaltakt, als Entscheidung einer Macht, deren eigentliche Motive für gerade diese willkürliche Tat unbekannt blieben.

Wer von den Verhafteten und Hingerichteten in Stalins Zeit wußte, warum gerade er verhaftet, in einen Prozeß gezogen und umgebracht wurde? Die Schuld war absolut rätselhaft, und gerade wenn sie von einem durch Stalin eingesetztes Gericht mühsam konstruiert wurde, wenn es sogar selbstanklagende Geständnisse gab: Die Ahnung wurde bald zur Erkenntnis, daß hier von einer obersten Instanz ganz willkürlich Schicksal gespielt wurde. Ein bürokratischer Apparat setzte sich in

Bewegung und ruinierte den Verhafteten psychisch und physisch, bis es zur Hinrichtung oder im besten Fall zur Deportation in den GULAG kam.

Inzwischen sind die großen totalitären Regime zusammengebrochen. Noch lange wird es in den postkommunistischen Ländern keine bis in kleinste Details ausgeformte Demokratien geben, aber man hat bereits begonnen, Parlamente zu schaffen und einigermaßen sinnvolle Gesetze festzulegen. Und zwar sinnvoll für die Freiheit und den Rechtsschutz des einzelnen.

Aber wie war das nun mit der Vergangenheit? Wer trug Schuld an dem, was geschehen war? Liest man heute Franz Kafkas „Prozeß” nochmals, erkennt man plötzlich, daß Josef K. in menschlichem Sinn keineswegs unschuldig war.

Was war der kleine Beamte wirklich? Ein krasser Egoist, kalt gegen seine Familie, seine Mutter (die er jahrelang nicht besucht hatte), ein Karrierist, die verdorrte Schrumpfform eines Menschen, wie er sein sollte. Haben sich nicht allzuviele in den vergangenen Diktaturen der Nazizeit und der kommunistischen Staaten als passive Mitläufer und um sich selbst besorgte Egoisten verhalten, die wegschauten, still waren, sich anpaßten oder versuchten, Karriere zu machen?

Franz Kafkas Werk hat viele Zugänge, es ist aufregend kompetent für sehr verschiedene Fragen: Wenn die Zeiten sich auch ändern - Franz Kafka war uns schon wieder voraus.

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