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Ziel: der ganze Mensch

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Die Gymnastik ist eine Wissenschaft, die keiner Kunst nachsteht. Philostratus

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Die Gymnastik ist eine Wissenschaft, die keiner Kunst nachsteht. Philostratus

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Die politisch-gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg brachten auch eine Neuorientierung der Bildung vom Leibe her mit sich: fachliche Enge und nationale Einseitigkeit wurden überwunden; die Leibesübungen wurden weltweit und weltoffen; der internationale Sport entwickelte sich zu einem wesentlichen Kulturfaktor, zu einem wirksamen Bildungs- und ansprechenden Bindemittel; auch im Sport wird der Mensch in den mittel-punkt gestellt; Bilden, nicht nur Vermitteln von Fertigkeiten wurde gefordert. Der kulturell-pädagogische Sport übernahm neue, erweiterte Bildungsaufgaben, die immer mehr auch wissenschaftlich erforscht wurden und werden.

Diese Höherstellung des Sports auf die kulturelle Ebene war nicht leicht: noch stark war das nationale Turnen mit der Freiheits- und Einheitsidee; noch war die geistige Bildung, die keinen oder wenig Platz für die körperliche Erziehung hatte, vorherrschend; die Theorie der leiblichen Sünde stand der pädagogischen Bildung vom Leibe her hemmend gegenüber; die Wissenschaftsfähigkeit des Sports wurde von den Vertretern der anderen Wissenschaften vom Menschen, vor allem auch in den eigenen Reihen der Sportlehrer, bezweifelt. Die Sportwissenschaft war eine Utopie: „Die Leibesübungen sind ein Fertigkeitsfach, in dem die Vermittlung von Geschicklichkeiten im Vordergrund steht." ,

Schon nach dem Ersten Weltkrieg legten die österreichischen Turner-neuerer - Karl Gaulhofer und Margarete Streicher - ein geistig-fachliches Konzept einer modernen Leibeserziehung: Leibesübungen im Rahmen der Gesamterziehung; der Körper ist der Angriffpunkt, Ziel der ganze Mensch.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Werk der österreichischen Turnerneuerer zeitgemäß gestaltet, vertieft und ausgebaut. Träger dieser Neugestaltung der Leibeserziehung waren die Direktoren und Lehrer der Institute für Leibeserziehung der Universitäten Österreichs.

Wertvoll waren die Arbeiten der Mitarbeiter der Sportwissenschaftlichen Gesellschaft der Universität Graz, die 1959 gegründet wurde: unabhängig und frei in Idee und Gestaltung; unkonventionell in Organisation und Arbeitsweise, nur mit Mitarbeitern, ohne Mitglieder. Die Gesellschaft konnte durch Initiativen und Aktivitäten die Arbeit der Universitäten, vor allem die der Institute für Leibeserziehung, tatkräftig unterstützen und die so notwendige Öffentlichkeitarbeit leisten.

Ziel der Gesellschaft war, durch überzeugende Arbeiten die Anerkennung der Sportwissenschaft auf akademischem Boden zu erringen. Neben den wissenschaftlichen Arbeiten der Mitarbeiter fanden auch die Dissertationen mit leibeserzieherisch-sportlichen Themen, die von Professoren der anderen Wissenschaften vom Menschen angenommen wurden, Beachtung. Bis zum Jahre 1979 wurden in Graz 53 Dissertationen mit leibeserzieherisch-sportlichen Themen verfaßt.

Der Aufbruch der Sportwissenschaften in Österreich begann mit der ersten ordentlichen Habilitation im Jahre 1956 in Graz; weitere Dozenturen folgten 1957 in Wien und 1960 in Innsbruck. Mit der Erteilung der Lehrbefugnisse im Fach Sport, wurden die wissenschaftlichen Arbeiten intensiviert. Auch in den anderen Universitätsstädten wurden sportwissenschaftliche Gesellschaften gegründet.

Folgende fachliche Schwerpunkte werden von Mitarbeitern der Grazer Sportwissenschaftlichen Gesellschaft bearbeitet: Schon im Jahre

1948 begann in Graz die moderne Literaturarbeit: die Bibliographie wurde vertieft und durch die Dokumentation - Erschließung des Inhalts der Veröffentlichungen - erweitert. In der Sportinformatik - Oberbegriff für die gesamte Literatur- und Dokumentationsarbeit - beschritt Graz neue Wege, die in der internationalen Fachwelt Anerkennung und besondere Beachtung fanden, Graz ergriff auch die Initiative zur Gestaltung von internationalen Kongressen für Sportinformatik - 1959 fand in Graz der erste Kongreß statt -, die die weitere Entwicklung der Sportinformatik richtungsgebend beeinflußten.

In Graz entstand auch die jugendgemäße Leichtathletik, die Didaktik der Jugendarbeit, die die Erkenntnisse der Jugendkunde und Jugendpsychologie verarbeitet und auf die Gestaltung der Jugendarbeit überträgt.

Seit 1948 gestaltet Graz alle zwei Jahre internationale Lehrgänge für Methodik des Sports, für Sportunterricht. Führende Sportwissenschafter, Methodiker und Praktiker demonstrieren den Teilnehmern aus aller Welt neue Erkenntnisse und Erfahrungen. Besonderen Anklang findet die Grazer Lehrgangsgestaltung, die Fach-Lehrgänge zu Bildungs-Lehrgängen gestaltet, in denen der Mensch im Mittelpunkt steht.

Großes Interesse finden die Bildungsfahrten mit kulturell-fachlichem Programm. Bisher wurden 38

Bildungsfahrten in Fachzentren Europas, nach Mittel- und Südamerika und in den Fernen Osten gestaltet.

Der Durchbruch der Sportwissenschaften in Österreich erfolgte im Jahre 1968 mit der Errichtung der Lehrkanzel für Sportwissenschaften in Innsbruck mit Univ.-Prof. Friedrich Fetz als Vorstand; 1969 folgte Wien mit Univ.-Prof. Hans Groll. Weitere Lehrkanzeln wurden errichtet 1971 in Graz mit Univ.-Prof. Günter Bernhard und 1974 in Salzburg mit Univ.-Prof. Erwin Niedermann als Vorständen.

Neben der Sportwissenschaft -Sportlehre, Didaktik, Pädagogik des Sports - entwickelten sich auch andere Sportwissenschaften: Bewegungslehre und Biomechanik, Sportgeschichte, Sportsoziologie, Sportethik. In Sportpsychologie laufen Forschungsprojekte.

Auf Einladung hielten österreichische Sportwissenschafter Vorträge auf internationalen Kongressen und Tagungen und leiteten Arbeitskreise. Von der internationalen Fachwelt finden die Veröffentlichungen der österreichischen Sportwissenschafter besondere Beachtung.

Die Sportwissenschaften sind in Österreich selbstverständlich. Sportwissenschafter bemühen sich, dem Sport in Forschung, Lehre und Praxis durch ihre Arbeiten Richtung, Maß und Ziel zu geben. So erfüllen auch die Sportwissenschafter die österreichische Mission des Brük-kenschlagens und des Verbindens.

Der Verfasser ist Leiter der Abteilung Sportinformatik des Instituts für Sportwissenschaften und Gründer und Vorsitzender der Sportwissenschaftlichen Gesellschaft der Universität Graz.

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