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Das Pathos des Mysteriums

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In der Semana Santa, der Heiligen Woche, entfaltet nicht nur Spanien all seinen Glanz und kulturellen Reichtum.

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In der Semana Santa, der Heiligen Woche, entfaltet nicht nur Spanien all seinen Glanz und kulturellen Reichtum.

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Aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts datieren die gewaltigen Karwoche-Prozessionen in Spanien, welche von religiösen Vereinigungen, den „Confradias“, veranstaltet werden. Sie beginnen am Nachmittag des Palmsonntag und dauern die ganze Karwoche hindurch, bis zum Morgengrauen des Karfreitags an. In der Semana Santa, der Heiligen Woche, entfaltet Spanien all seinen Glanz und kulturellen Reichtum.

Zu den berühmtesten Prozessionen zählen jene von Sevilla, Valladolid, Toledo und Córdoba, obwohl sie einander freilich alle ähnlich sehen, und nur durch die Teimehmerzahl und die verschiedenartige Ausstattung voneinander unterscheiden.

Religiöse Prozessionen dieser Art finden wir in Europa außerhalb Spaniens nur noch auf Sizilien, das im 16. Jahrhundert von spanischen Vizekönigen regiert wurde.

Sizilien ist aber in jeder Beziehung anders als Spanien, und überhaupt gibt es mit Sizilien keinen Vergleich auf der Welt. Bedenkt man, daß die Sizilianer geborene Schauspieler sind, gerne singen und musizieren, dann versteht man auch, warum die Leidensgeschichte Christi den dramatischen Sinn dieses Volkes so sehr erregte und zum Entstehen einer ganzen Reihe volkstümlicher Darstellungen, Passionsspiele und Mysterienprozessionen Anlaß gab.

Von Palermo bis Ragusa und von Acireale bis Trapani gibt es diese charakteristischen Passions- und Mysterien Prozessionen, welche am Karfreitag nachmittags beginnen und ohne Unterbrechung die ganze Nacht hindurch bis Karsamstag-Mittag dauern.

Bis zu zwanzig und mehr tragbare Altäre mit Statuengruppen, jede eine Passionsszene darstellend, und die in keinem Zug fehlen dürfende Madonnenstatue, vom Volke „Desolata“ (die Untröstliche) genannt, alle mit Blumen, kostbarem Schmuck und Kerzen umgeben, werden in Prozessionen durch die Straßen geführt und verehrt. Mehrere Trauermusikkapellen und Sängerchöre, die Litaneien vortragen, begleiten die einzelnen Passionsgruppen. Nur bestimmten Bruderschaften und Berufsgruppen steht es zu, die ihnen von der Tradition bestimmten Passionsaltäre zu tragen. So werden das Abendmahl und Jesus auf dem öl-berg den Bäckern anvertraut, den Kaufleuten hingegen Jesus vor Pilatus und die Geißelung, den Fischern die Kreuzigung und der Tod Jesu.

Die Mysterienprozessionen sind auf Sizilien von gewaltigen Dimensionen und die Tragaltäre sehr schwer, so daß der ganze Zug nur langsam und ruckweise vorwärtskommt. Es wird unzählige Male in den Straßen stehengeblieben, da die gewichtigen, prunkhaft geschmückten und mit brennenden Kerzen versehenen Passionsaltäre nur unter größter Kraftanstrengung fortbewegt werden können. Halb entblößt und schweißtriefend schreiten die Träger im Takt der Trommelschläge und bringen ihre Last immer nur meterweise weiter. Zwei lange Reihen von weiß, rot oder schwarz gekleideten Kapuzenmännern begleiten mancherorts, beiderseits der Prozession gehend, die Mitwirkenden.

Von den verschiedenen Prozessionsgruppen werden immer wieder einzelne Passionsbegebenheiten vor jeweils neuen Zuschauern gespielt oder vorgetragen. In der Mehrzahl sind es einfache pathetische Dialoge, aus alten Mysterienspielen stammend, die das Publikum auffordern, an dem Leiden des göttlichen Sohnes und an dem Schmerz der Muttergottes teilzunehmen. Mitleid und Entsetzen der Zuschauermenge begleiten die durch alle Straßen tönenden, wehmütigen Klagerufe und Litaneien.

Vierundzwanzig Stunden und mehr dauern auf Sizilien die Prozessionen, so daß oft der ganze Verkehr in den Hauptstraßen auf Stunden zum Erlahmen gebracht wird. In Palermo stauen sich dann die Auto- und Autobuskolonnen kilometerweit, was man aber dort mit erstaunlicher Zuvorkommenheit erduldet und sogar als selbstverständlich hinnimmt. An der Passionsprozession in Palermo nehmen stets auch einige als rosige kleine Madonnen in weite Mäntel mit Schleppen gehüllte Mädchen teil, der wundertätigen Statue der Maria Santissima Addolorata aus der Kirche Maria Santissima in Palermo nachgebildet. In Caltanissetta beginnt man mit den Prozessionen bereits am Gründonnerstag; durch die hell erleuchteten Straßen trägt man dort 16 große, reich geschmückte Passionstafeln, Kopien von Meisterwerken italienischer Maler.

Auch Enna rühmt sich pompöser Karfreitagsprozessionen, in Acireale bei Catania prangen die teilnehmenden Bruderschaften mit ihren malerischen alten Trachten; in Comiso bei Ragusa wird besonders ergreifend die Begegnung der Schmerzhaften Mutter mit dem auferstandenen Christus dargestellt. Auf dem Stadtplatz von Comiso begegnen einander am Karsamstag die Statue der Madonna und die Statue Jesu Christi, welche mehrer Male einander genähert und wieder voneinander entfernt werden.

Die größte Zahl von Passionsaltären nimmt an der Mysterienprozession zu Trapani teil. 20 holzgeschnitzte, lebensgroße, mit kostbaren Gewändern und Schmuck beladene Figurengruppen werden dort durch die Straßen getragen, begleitet von vielen rotweiß gekleideten Kapuzenmännern.

In San Fratello, in der Provinz Messina, verläuft die Karwochenpro-zession wohl am merkwürdigsten, denn ausschließlich Frauen nehmen daran teil. Und während die Frauen um den Tod Jesu Christi trauern, wird der Ort von den Männern, alle mit Gesichtsmasken, in roten Uniformen, einen Fuchsschwanz auf dem Rücken, laut Trompete blasend, überfallen und gestürmt. In Butera wieder folgen 12 Apostel in blauen Gewändern dem Christus, der auf einer Bahre liegt.

Nirgendwo offenbart sich die Seele Siziliens so unmittelbar wie bei den ergreifenden Mysterienbräuchen der sizilianischen Karwoche, in der sie uns unverhüllt und entblößt entgegentritt, edel, stolz, glühend und glaubensstark.

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