Fluchtpunkt einer hypertechnisierten Welt

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Online-Gottesdienste gehören im Jahr 2025 zum Alltag der Menschen, notiert Athene in ihr Tagebuch. Der Sonntag ist nur mehr einigen wenigen Nostalgikern heilig.

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Online-Gottesdienste gehören im Jahr 2025 zum Alltag der Menschen, notiert Athene in ihr Tagebuch. Der Sonntag ist nur mehr einigen wenigen Nostalgikern heilig.

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Es ist Sonntag morgen und ich sträube mich noch ein wenig gegen das Aufstehen. Ich gehöre zu jenen, denen es noch wichtig ist, an diesem Tag nicht zu arbeiten. Hart habe ich dafür kämpfen müssen. Sogar eine Gehaltseinbuße habe ich dafür in Kauf genommen. Den meisten Menschen ist es mittlerweile schon egal, an welchem Tag der Woche sie frei haben. Vielleicht bin ich ja eine hoffnungslose Nostalgikerin. Aber mir macht es einfach Freude, am Sonntag die Kirche zu besuchen. Diese Online-Gottesdienste sind auf Dauer doch nicht das Wahre ...

Endlich raffe ich mich auf. Im Badezimmer wähle ich das Luxus-Körperpflegeprogramm. Man möchte ja schließlich gepflegt aussehen in der Kirche. Währenddessen generiert sich in der vollelektronisch gesteuerten Küche mein Frühstück. Skeptisch werfe ich einen Blick auf den Replikator, der geröstetes Brot und Kaffee auswirft. "Oma mußte das noch selber machen", denke ich amüsiert. Ich beschließe, heute wieder zu Fuß in die Kirche zu gehen, so wie man das früher gemacht hat, als es noch keinen Luftkissen-Shuttleservice gab.

"Ursprünglich römisch-katholische Kirche" steht auf einer Gedenktafel vor der großen Stadtkirche. "Altkatholisch, römisch-katholisch, evangelisch" - das war einmal von Bedeutung. Heute ist es nicht mehr so wichtig, welcher Konfession man angehört. Die Konfessionen verstehen sich nicht mehr als Konkurrenten, sondern als geschwisterliche Gemeinschaften der einen Kirche Jesu Christi. Deshalb gehe ich auch dort in die Kirche, wo ein guter Prediger zu hören ist, ganz egal welches Gewand er oder sie anhat. Natürlich hätte ich auch den virtuellen Gottesdienst von zu Hause aus mitverfolgen können. Aber den Geruch von Kerzen und Weihrauch und den Eindruck des realen sakralen Bauwerks kann auch im Jahr 2025 keine Datenleitung der Welt vermitteln.

Allen Unkenrufen zum Trotz hat das kirchliche Leben in den letzten Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen. Es hat eine Zeit gegeben, da wollten viele Menschen nichts mehr von der Kirche wissen - andere begehrten gegen die bestehenden Verhältnisse auf. Wenn ich mich recht erinnere, muß das kurz vor der Jahrtausendwende gewesen sein.

Dann kam aber das Dritte Vatikanische Konzil vom Jahre 2015. Das hat so einiges in Bewegung gebracht. "Back to the roots" - so könnte man das Motto umschreiben. Das Christentum wurde entrümpelt, das Wort Gottes rückte wieder in den Mittelpunkt. Das war wohl eine ziemliche Revolution - meine Oma nannte das sogar ein Wunder.

Die Katholiken sehen seitdem vieles nicht mehr so eng. Der Zwangszölibat wurde abgeschafft. Jeder Priester kann seine Lebensform frei wählen. Auch für die Frauen hat sich einiges geändert. Zwar dürfen sienoch nicht den Titel "Priesterin" führen. Gerade da gibt es immer noch Widerstände von männlichen Kollegen. Es wird aber wohl nicht mehr lange dauern, bis auch diese Frage geklärt ist. De facto nämlich können Frauen mittlerweile vieles machen, was noch vor 30 Jahren völlig undenkbar gewesen wäre. Heute gibt es unzählige katholische Gemeinden, die von Frauen geleitet werden.

Ich freue mich, daß der Gottesdienst beginnt. Die Kirche ist für mich einer der letzten Fluchtpunkte in einer hypertechnisierten Welt. Das Schöne an den Gottesdiensten in unserer Zeit ist, daß sie nicht mehr so steif ablaufen wie früher. Die Menschen sprechen miteinander, die Kinder dürfen spielen. Ich erfahre, daß heute eine kirchliche Trauung angesetzt ist und deshalb beschließe ich, noch etwas länger zu bleiben. Es ist für beide Partner die zweite Ehe. Trotzdem bekommen sie auch von der Kirche die Chance eines Neuanfanges.

Nach dem Gottesdienst besteht die Möglichkeit des persönlichen Gesprächs mit einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin. Dabei bekomme ich den Tip, doch noch im Diözesanhaus vorbeizuschauen. Heute findet das Kandidatenhearing zur bevorstehenden Bischofswahl statt. Jedes Mitglied der Diözese soll die Möglichkeit haben, sich vor der demokratischen Wahl seine Meinung zu bilden. Gewählt wird dann per Internet. Jener Kandidat, der die Mehrheit erhält, bekommt aus Rom seine offizielle "Ernennungs-E-Mail" übermittelt. Daß die Laien bei Ernennungen mitbestimmen dürfen, hält man heute auch dort für eine tolle Sache. Ganz nach dem Motto: "Wir sind die Kirche". Ich nehme mir vor, nächsten Sonntag wieder die Kirche zu besuchen. Zu Fuß.

Ende der Serie

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