Reisen in die andere Welt

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Mit Christoph Ransmayr kann man das denkbar unsicherste Gelände betreten: die Literatur. Von 18. bis 23. November 2003 findet im Wiener Rathaus die Österreichische Buchwoche statt. Für die Furche Grund genug, in einer Buch-Lese Bücher von österreichischen Autorinnen und Autoren sowie über sie bzw. aus österreichischen Verlagen vorzustellen. Gespickt ist diese Beilage mit Zitatenaus Christoph Ransmayrs Buch "Die Verbeugung des Riesen" sowie mit Antworten, die Prominente auf die Frage gaben: Warum lesen Sie? Redaktion: Brigitte Schwens-Harrant

Die Literatur sei längst schon in der Defensive, wird allerorten, jedenfalls im Kulturbetrieb lamentiert. In der Epoche der New Economy sei kein Platz mehr für sie vorgesehen, auch für sie kein Platz mehr, kein Ort, nirgends.

Kein Wunder, dass die derart zurückgedrängten Autorinnen und Autoren da und dort in die Offensive vorzurücken versuchen. Sie schreiben nicht nur Bücher. Sie geben darüber hinaus dauernd Auskunft, über ihr Werk, über unsere Regierung, über Gott und die Welt. Sie versäumen keine Gelegenheit, uns mitzuteilen, dass sie das Gedächtnis, wenn nicht sogar das Gewissen der Nation verkörpern.

Weiter erzählen

Christoph Ransmayr gehört nicht zu ihnen. Er sträubt sich, seine eigenen Arbeiten zu erläutern. Er lehnt es ab, zu allem und jedem ein Statement zu verfassen. Er zieht es vor, weiter zu erzählen ... und dabei, wie Kleist, wie Stifter, wie Kafka, Konstellationen zu entwerfen, in denen ein einzelner, mehr oder weniger unbekümmert um das Gerede ringsherum, unbeeindruckt auch von den Erwartungen, die in ihn gesetzt werden, das Recht auf Selbstverwirklichung noch immer über alles stellt oder wenigstens nicht gleich von vornherein über Bord wirft.

Die zehn Geschichten vom Erzählen, die in diesem Band versammelt sind, allesamt zu bestimmten Anlässen entstanden, tendieren denn auch dazu, sich zu neuen Geschichten zu entwickeln, statt alte Geschichten zu besprechen. Nicht das Präsens, das Präteritum dominiert in diesem Buch. Der da erzählt, erzählt von Reisen, von Verwandlungen, von seinen Bemühungen auszureißen, wann immer es plötzlich einmal heißt: Hiergeblieben! Was immer ihm zugemutet, was immer auch ihm zugetraut wird, er nimmt sich in jedem Fall die Freiheit, "seine Welt, seine Gegenwart" zu verlassen und in einer anderen Welt "Zuflucht vor der brennenden Wirklichkeit" zu suchen. Die andere Welt: das könnte die Wildnis sein, ein Tempel, ein Kino, ein Museum ..., für den Erzähler dieser Geschichten ist es vor allem die Welt der Literatur. Das denkbar unsicherste Gelände.

Kein sicherer Zufluchtsort

Am Hafen von Hongkong erzählt Hans Magnus Enzensberger, er habe sich den Titel seiner Komödie "Der Untergang der Titanic", die ins Japanische oder Chinesische oder Koreanische übersetzt worden sei (Ransmayr erinnert sich nicht mehr genau), er habe sich also wenigstens den Titel ins Deutsche rückübersetzen lassen und dabei zur Kenntnis nehmen müssen, dass aus dem Untergang' eine Verbeugung', aus der Titanic' ein Riese' und somit alles in allem in dieser Weitererzählung aus der Katastrophe eine "Verbeugung des Riesen" entstanden sei.

Die Welt der Literatur ist kein sicherer Zufluchtsort. Viel eher ein Ort, an dem Missverständnisse gedeihen wie selten anderswo. Immerhin, nirgends sonst kann eine Tragödie sich so leicht und doch echt radikal in eine Komödie verwandeln.

Neben Hans Magnus Enzensberger und Claus Peymann, Monika Schoeller und Reinhold Messner und Karl Markus Michel, die alle in diesen Geschichten als Weggefährten des Erzählers in Erscheinung treten (und ihn hin und wieder doch auch dazu verleiten zu schwärmen, zu schwärmen von den Spaziergängen und Wanderungen, die ihn "nicht bloß in die Fremde", die ihn "ins Innere der Welt" geführt haben, zu schwärmen also, wie Veteranen schwärmen), neben diesen Gestalten, die ihn auf seinen Wegen, auf seinem Weg begleitet haben, hebt der Erzähler vor allem zwei seiner Vorläufer heraus. Franz Kafka und Friedrich Hölderlin: in Geschichten, die Ransmayr anlässlich der Verleihung des Franz Kafka Preises 1995 bzw. des Friedrich Hölderlin Preises 1998 zum ersten Mal vorgetragen hat. Hier sei indessen am Ende eine andere Geschichte noch hervorgehoben: "Corleone".

Sizilien erlesen

Sie berichtet von einem Erzähler, der in Corleone, in der Provinz Palermo, zum ersten Mal in seinem Leben Fernweh' nach Sizilien empfindet. Er bricht auf, kommt über Trapani, Agrigent, Ragusa, Syrakus und Catania bis an den Fuß des Ätna, gleichwohl jedoch von seinem Gefühl nie los. In Sichtweite des Ätna endet schließlich seine Reise, weil sein Reisebegleiter krank wird; und er beginnt zu lesen. "Zuerst blätterte ich bloß ein bißchen verzagt, las dann aufmerksamer, schließlich gebannt in einem vom langen Transport zerfledderten Band, der eine Sammlung sizilianischer Dichtung und Erzählungen enthielt, und begann, Landschaften und Menschen, das Blau des Himmels und des Ionischen und Tyrrhenischen Meeres und nach und nach alles, was ich in den vergangenen Tagen und Wochen gesehen oder erfahren hatte, in den Geschichten Tomasi di Lampedusas, Elio Vittorinis oder Luigi Pirandellos wiederzuerkennen. Ich saß an einem teerigen Strand im Schatten schwarzer Felsen neben einem schlafenden Freund und reiste nun endlich doch durch Sizilien."

Ransmayr warnt immer wieder davor, die Wirkungsmöglichkeiten der Literatur zu überschätzen. Aber andererseits sieht er offensichtlich keinen Grund, die Hände in den Schoß zu legen und ins Lamentieren zu verfallen.

Der Autor ist Vorstand des Forschungsinstituts Brenner-Archiv, Innsbruck.

Die Verbeugung des Riesen

Vom Erzählen

Von Christoph Ransmayr

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003

91 Seiten, geb., e 12,40

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