Tiwald Urlaub  - © Foto: Privat

Die Kunst des Anfangens: Immer wieder - werden

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Langsam, ganz langsam stimmen wir uns auf das neue Schuljahr ein. Was kann ich als Lehrerin zumuten? Und was darf ich hoffen? Gedanken über das Anfangen.

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Langsam, ganz langsam stimmen wir uns auf das neue Schuljahr ein. Was kann ich als Lehrerin zumuten? Und was darf ich hoffen? Gedanken über das Anfangen.

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Ein weißes Rechteck: ein neuer Text. Fangen wir an – ganz neu. Oder wie­der. Von vorne. Frisch! Manchen Anfängen wohnt nicht nur Zauber inne. Sondern der Atem von Jahrzehnten. Unsicherheit und Zweifel, viele Fragen. Oder einfach Matsch.

Unsere Freundin Petra erzählt uns, ihre Nachbarin, eine alte Bäuerin, habe begonnen, ihr bei Besuchen Fragen zu stellen. Fragen nach der Natur, denn offenbar beschränkt sich das Wissen der Bäuerin auf ihren unmittelbaren Arbeitsbereich, Feldfrüchte und Nutztiere: Sie fragt beim Gang durch den Garten nach den Namen der Wiesenblumen. Und wie eigentlich Schmetterlinge ­entstehen.

Wir staunen über diese Geschichte und freuen uns über den Beweis, dass der Durst nach neuem Wissen auch mit über achtzig nicht einschläft. Bastian, der dabeisitzt, ist noch nicht dreißig, Metallarbeiter, voll Neugier auf alles in der Welt, einer Wissbegier, die er mit Büchern und Podcasts füttert. Die Raupen von Schmetterlingen, sagt er, zersetzen sich in ihren Kokons nahezu vollständig, bevor aus wenigen Zellen der neue Körper zu entstehen beginnt: „Sie werden komplett zu Gatsch!“, in seinen faszinierten Worten. Vollkommene Metamorphose, lese ich nach.

Wie das oft ist, wenn ein neuer Text beginnt, wie dieser es gerade tut, geschehen beim und vor dem Schreiben Zufälle, die so wirken, als seien sie keine: Kaum denke ich bei den Raupen in ihren Kokons an Kafkas Gregor Samsa, dessen Metamorphose die biologische Leiter hinunterführt, poppt das Mail auf, das mir meine tägliche ungarische Vokabel liefert. Diesmal: csótány – Kakerlake (ich habe, das ist ein großer Posten in der Geschichte von meinen Anfängen, mindestens dreimal von vorne begonnen, Ungarisch zu lernen, aber jedes Mal nach der Aneignung ein paar neuer Brocken die Umsetzung meines Wunsches auf eine noch zu kommende Zeit verschoben: eine ganz gute Erfahrung, was die Begrenztheit von Lernen und den Traum vom Können betrifft).

Von Kafka zur Schule

Nun gut, also: Kafka. Metamorphose. Insekt. Ungarisch. Lernen! Ich stricke Assoziationen: So beginnt Text, bevor ich überhaupt den Computer einschalte. In meinem Kopf reichen sich Kafka und die ungarische Kakerlake Finger und Fühler, und jetzt drängen noch meine Schüler dazu ins weiße Rechteck, das auf dem Bildschirm erschienen ist. Weil ich vom Schreiben, vom Wortestricken nicht so leben kann, wie ich mir das als angenehm vorstelle, bin ich Lehrerin geworden, deswegen ist es nicht weit von Kafka zu Schule (außerdem ist die Brücke von Kafka zur Schule vielleicht ein bisschen eleganter als die vom Raupenmatsch zu den Schülern, die sich doch auch wandeln sollen). In meinen Anfängen als Lehrerin in Wien war ich noch schockiert, als Zehnjährige auf die Frage, welche Getreidesorten sie kennen, fröhlich „Mehl!“ krähten. Mittlerweile habe ich ein Sensorium dafür entwickelt, was sie wissen – manche können Traktor fahren, das kann ich zum Beispiel nicht – und was nicht.

Ich begleite jeweils einen Jahrgang in verschiedenen Fächern durch vier Jahre Mittelschule. Das bedeutet für mich auch, die Kinder zum Lesen, zur Literatur zu verführen. In der ersten Klasse machen wir aus Goethe-Porträts Gespenster und lesen das Hexeneinmaleins; in der vierten lege ich ihnen den ersten Satz aus Kafkas „Verwandlung“ vor und frage nach Ideen, wie die Geschichte weitergehen könnte.

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