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FUNDAMENTE UND SCHÄTZE

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Die systematische Erforschung der Theatergeschichte wurde in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gleichzeitig und fast unabhängig voneinander von Berthold Litzmann, dem damaligen Literarhistoriker an der Universität Bonn, und von Karl Glossy, dem damaligen Direktor der Wiener Stadtbibliothek, in Angriff genommen.

In den siebzig Jahren seither hat die Theaterforschung auch in den meisten übrigen Ländern Europas Fuß fassen können. Dabei gingen dreierlei Tätigkeiten Hand in Hand: die Quellenmaterialien wurden in Theatermuseen, Theatersammlungen und Theaterbibliotheken zusammengetragen und durch bestimmte Ordnungsprinzipien für die Forschung bereitgestellt; zweitens entstanden in vielen Ländern Gesellschaften für Theaterforschung, die entweder theaterwissenschaftliche Zeitschriften oder Jahrbücher herausgeben; drittens aber wurden an einer ganzen Anzahl europäischer Universitäten Lehrstühle für Theaterwissenschaft und mit ihnen verbundene Universitätsinstitute dieses Faches ins Leben gerufen, die sowohl der Forschung, als auch der theaterwissenschaftlichen Ausbildung künftiger Dramaturgen, Regisseure, Kritiker, Archivare und Forscher dienen.

Wichtig war an diesem Eingriff der Universitäten, daß von dort aus gezeigt wurde, um wieviel die Theater Wissenschaft sowohl über die (bis dahin oft nur lokal betriebene) Theater g e s c h i c h t e, als auch wie sehr sie erst recht über die Literaturgeschichte hinausrage, mit der sie zunächst, in Ermangelung eigener Lehrstühle und Lehraufträge, vielfach verbunden war. Als die ersten Vorkämpfer dieser universellen Theaterwissenschaft erwiesen sich Max Herrmann in Berlin und Arthur Kutscher in München. Aber erst relativ spät, seit 1923, kam es wirklich zu einer Verselbständigung der Universitätsdisziplin: Theaterwissenschaft; und erst seitdem konnte vorerst im deutschen Sprachgebiet auf breiterer Basis Theaterwissenschaft in Lehre und Forschung betrieben werden. Die Universitäten Berlin und. Köln gingen voran; Wien, wo seit den zwanziger Jahren die Literaturhistoriker Arnold und Castle, Payr, von Thum und Weilen ebenfalls theaterhistorische Vorlesungen gehalten hatten, folgte 1943 nach. Bis heute besitzt das gesamte deutsche Sprachgebiet nur diese drei Lehrstühle für Theaterwissenschaft. Dagegen wurden erfreulicherweise an den Universitäten Stockholm, Kopenhagen, Bristol, Manchester, Paris, Rom und Mailand (Katholische Universität) im Laufe der Jahre nicht nur Lehrstühle, sondern auch Institute für Theaterwissenschaft errichtet.

überschaut man das Ganze dieser europäischen Konstel-M lationen, ,dan,n darf man vielleicht sagen, daß in Wien in relativ kurzer £eit, eine optimale JL&ung £efw4«n. wurde. Hier wurde im Rahmen der österreichischen Nationalbibliothek 1922, ausgehend von der großen privaten Theatersammlung des einstigen Burgtheaterdirektors und berühmten Komikers Hugo Thimig, die Theatersammlung der österreichischen Nationalbibliothek eingerichtet. Indessen ist die Theatersammlung auf mehr als eine Million Objekte angewachsen, die vom Mittelalter bis in unsere Zeit reichen und die viele Nachlässe, unter anderen den von Max Reinhardt, übernehmen durfte. Zur Opern- und Ballettentwicklung aber bietet die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Kostbar-Ergänzendes. Auch die Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek, in der — um nur ein Beispiel zu nennen — hunderte von Handschriften aus dem österreichischen Jesuitentheater aufbewahrt werden, die Albertina, die Bibliothek der Akademie der bildenden Künste, das Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, die Wiener Stadtbibliothek und die Wiener Städtischen Sammlungen beherbergen tausende von für die Theaterforschurig unschätzbaren Objekten.

Dis Institut für Theaterwissenschaft an der Wiener Universität aber, das seinem Lehr- und Forschungsapparat sowie der Studentenzahl nach umfassendste in Europa, stellt, ergänzend zu diesen Sammlungsbeständen, seine Fachbibliothek an Grundlagenwerken im LImfang von etwa 60.000 Bänden sowie ein von den Achtziger jähren des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag reichendes Archiv von rund einer halben Million Theaterkritiken zur Verfügung. An diesem vom Verfasser dieser Zeilen gegründeten Institut arbeiten im Durchschnitt 300 bis 350 Studierende aus zehn bis zwölf Nationen, wobei außer Bürgern europäischer Staaten auch Amerikaner, Australier und Angehörige ostasiatischer Völker vertreten sind. Oft werden hier auch die künftigen Lehrstuhlinhaber für Universitäten anderer Völker ausgebildet. Die Dissertationen der Doktoranden und die Forschungen der an diesem Institut tätigen Professoren widmen sich programmatisch neben Fragen des traditionsreichen heimischen Theaterlebens Grundfragen des gemeinsam-europäischen Theaters. Am sinnfälligsten wird dieses Bemühen zum Beispiel in der sechsbändigen „Theatergeschichte Europas“ (bisher vier Bände erschienen, der fünfte im Druck) des Verfassers dieser Zeilen oder in den Arbeiten von Professor Margret Dietrich zur Europäischen Dramaturgie. Dem Austausch neuester Forschungsergebnisse auf gleich universaler Ebene aber dient die vom Wiener Theaterwissenschaftlichen Institut herausgegebene Vierteljahrsschrift für Theaterwissenschaft: „Maske und Kothurn“ (nun im VIII. Jahrgang), während die Arbeit der mit dem Institut eng verbundenen Gesellschaft für Wiener Theaterforschung samt ihrem Jahrbuch den speziellen Wiener oder österreichischen Problemen gewidmet ist .

Ahnlich steht es in B e r 1 i n - W e s t, wo das Theaterwissenschaftliche Institut der Freien Universität (das nun zugleich die sogenannte Unruhsche Theatersammlung betreut) ganz eng mit der Berliner Gesellschaft für Theatergeschichte zusammenarbeitet und deren Schriftenreihe mitbetreut, in der wertvolle Ergebnisse der speziell deutschen Theatergeschichtsforschung festgehalten werden. An der Universität Köln wieder steht im Schloß Wahn die überaus reiche, ehemalige Sammlung Niessen nun dem Institut zu Gebote, und eine Dissertationensammlung „Die Schaubühne“ sorgt für die Veröffentlichung wesentlichster Ergebnisse — auch hier wieder vorwiegend zu Themen der deutschen Theatergeschichte. In Hamburg ist nun die für Norddeutschland sehr wichtige Theatersammlung der Stadt Hamburg dem Germanistischen Seminar als Zweiginstitut überantwortet worden, so daß auch“ dort sich — für diese Gebiete — eine sehr fruchtbare Forschungsarbeit zu entwickeln vermag. In München war schon 1910 aus einer Privatsammlung der Schauspielerin Clara Ziegler ein Theatermuseum entstanden. Viele der Objekte wurden im letzten Krieg vernichtet. Indessen aber wurde das Münchner Theatermuseum in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder zu einer sehr ansehnlichen Sammlung, natürlich vorwiegend süddeutschen Charakters, entwickelt.

Außerhalb des deutschen Sprachgebietes'muß vor allem vom-' Forschungszentrum Stockholm gesprochen-werden. Dort hat Agne Beijer, heute der Doyen der europäischen Theaterforscher, mit glücklichem Griff rund um das aus dem 18. Jahrhundert erhalten gebliebene Schloßtheater von Drottningholm 1922 das schönste und vielseitigste Theatermuseum errichtet, das Europa bisher besitzt (denn die Wiener Theatersammlung, die an Objekten an sich viel reicher wäre, bekam trotz vielen Bemühungen bis heute noch keine ausreichenden Museumsräume). Eng verbunden mit der Drottningholmer Sammlung, die auch viele Schätze aus der französischen und italienischen Theaterentwicklung besitzt, arbeitet der Theaterwissenschaftliche Lehrstuhl der Universität Stockholm samt seinem Theaterhistorischen Seminar. Im selben lahr 1922 aber gründete Robert Neiiendam im ebenfalls erhalten gebliebenen Theater der Kopenhagener Christiansborg ein dänisches Theatermuseum, das insbesondere zur Kopenhagener Theatergeschichte eine Überfülle der Bildwerke, Modelle, Regiebücher, Pläne usw. enthält, so daß auch in diesem Fall die an der Universität Kopenhagen am dortigen Lehrstuhl und Institut für Theaterwissenschaft vorgenommenen Studien zur skandinavischen Theatergeschichte immer wieder auf diese höchst originelle Sammlung zurückgreifen können. Das jüngste der europäischen Theatermuseen ist in Amsterdam entstanden: es wurde in einem der sehr würdigen Patrizierhäuser an der Herengracht untergebracht und mit künstlerisch erlesenem Geschmack eingerichtet. Es ist ein

ästhetischer Genuß, diese neue Sammlung, die die holländische Theatergeschichte von der Renaissance an aufrollt, zu benützen. Bald dürfte ein Lehrstuhl an der Amsterdamer Universität folgen; an der Universität Utrecht ist jetzt schon wenigstens ein Lehrauftrag für Theaterwissenschaft errichtet worden.

Der Pariser Lehrstuhl für französische Theatergeschichte und das parallel dazu geschaffene Institut für allgemeine Theatergeschichte sind erst jüngsten Datums. Für die Forschung aber stehen recht dezentralisierte Sammlungen zu Gebote: am umfangreichsten die aus ursprünglichen Privatsammlungen von Auguste Rondel hervorgegangene und 1920 in die Pariser Bibliotheque d'Arsenal eingegliederte „Collection Rondel“, die dem Gesamtgebiet des französischen Theaters gewidmet ist, während das Archiv der Comedie Franfaise und das Musee de I'Opera speziell dem Entwicklungsgang dieser Institute dienen. 'Auch die Bibliothek 'uwd -dtrvZ^itt^ife«der-''Societe:'d'His-k)}i“e du Theätre gewährt vhde bfWiographiBc&en Mjlflen. Wiete'Wien' die Albertiif, stf'Verfügt ;ih Paris “gär manche AbteMIütfg“3es Louvre über wertvollste theatergeschichtliche Bilddokumente. In London finden sich die reichsten theaterhistorischen Objekt-Sammlungen in der theatergeschichtlichen Abteilung des Albert- und Victoria-Museums. Dort wurde nicht nur Englisches, sondern auch Italienisches (Renaissance!) zusammengetragen. Es versteht sich, daß das Britische Museum ebenfalls viele theaterhistorische Materialien besitzt. In England sind freilich viele Theatersammlungen auch in Privatbesitz, so in dem des Herzogs von Devonshire oder in dem des Garrick-Clubs. Die ausgezeichnet arbeitende Gesellschaft für englische Theatergeschichte gibt eine kleine Zeitschrift und eine Buchreihe heraus. Die universitätsmäßige Forschungsarbeit aber wird in erster Linie am Drama Department der Universität Bristol geleistet, zu dem nun neuerdings auch ein Drama Department der Universität Manchester kommt.

In Rom steht den Theaterforschern vor allem die '931 gegründete „Biblioteca teatrale dei Burcardo“ mit musealen Objekten zur Verfügung. Sie führt von den Anfängen der Com-media dell'arte bis in die Gegenwart. Für die italienische Operngeschichte aber ist das überaus reiche und weit über das Spezialgebiet hinausreichende Museo alla Scala in M a i 1 a n d zuständig.

In der kommunistischen Ländern ist überall die theatergeschichtliche Forschungsarbeit als Teamarbeit in speziellen Abteilungen der Akademen der Wissenschaft oder — in O s t-B e r 1 i n — an der Akademie der Künste konzentriert. Auch das Barocktheatermuseum in Dresden und die Nationalen For-schungs- und Gedenkstätten in Weimar die viel Kostbares zur Theaterdirektion Goethes besitzen, müssen erwähnt werden. In Moskau nimmt vor allem das Bachruschin-Muscum eine zentrale Stellung ein, in Leningrad die Bibliothek Luna-tscharski. In Jugoslawien schließlich besitzen Belgrad, Zagreb und L j u b I j a n a besondere Theatersammlungen. Die Forschungsarbeiten gehen dort von diesen Sammlungen und von der staatlichen Theaterakademie in Ljubljana aus.

A lle diese Institutionen für Theaterforschung aber, die an den Universitäten, die Theatersammlungen und die Gesellschaften für Theaterforschung — und nicht nur die europäischen, sondern die auf der ganzen Welt —, sind nun seit 1955 in einer „F e d e-ration Internationale pour la Recherche T h e ä t r a 1 e“ zu sehr fruchtbarer Zusammenarbeit vereinigt. Die Kongresse dieser internationalen Gesellschaft bieten ein überaus lebendiges Bild der jeweiligen Forschungslage. Nunmehr aber wird in V e n e d i g, in einem Stockwerk der Casa Goldoni, durch diese Föderation ein „Internationales Institut für Theaterforschung“ errichtet, dem vielfach bibliographische und ikonograpbische Aufgaben zufallen werden. Auch an den Arbeiten dieses Instituts ist das Wiener Institut für Theaterwissenschaft an führender Stelle beteiligt.

Im ganzen ist die Theaterforschung heute in lebhaftem Aufstreben begriffen. Auch die Theaterpraktiker arbeiten mit, weil sie wissen, welche wichtigen Hilfsstellungen ihnen die Theaterforschung zu geben vermag. Vor allem aber erweist sich die Theaterforschung immer mehr als integrierender Bestandteil der gesamten Geistes- und Kulturgeschichte, so daß sie als unentbehrlich empfunden wird von allen, denen an einer abendländischen Kulturkontinuität liegt.

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