Das Opfer kehrt zurück

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Was hat der Fleischkonsum im Westen mit atavistischen wie neuzeitlichen Opferriten zu tun? Und welche politischen Implikationen birgt eine wieder verstärkte Rede vom "Messopfer“?

W enn das Schnitzel am Teller liegt, ist die Welt in Ordnung. Jährlich werden pro Kopf in Österreich rund 67 Kilo Fleisch gegessen. Fleisch ist billig und die Konturen der Tiere verlieren sich dabei: ein Huhn reduziert sich auf Brust und Keule, Schaf ist Kotelett oder Schulter, am besten mit Rosmarin, usw. Der Fleischkonsum hat sich seit den 1950er Jahren hierzulande fast verdreifacht. Der römischen Dichter Ovid, der selbst einer dem guten Leben ergebenen Kultur angehörte, würde sich abwenden - denn wer Tiere isst und tötet, begeht Verwandtenmord, erklärte Ovid. Da die Tiere den Menschen so nahe stehen, lädt Schuld auf sich, wer Tiere tötet und isst. Religionshistoriker meinen, dass dieses Gefühl der Menschen, mit dem Töten von Tieren Unrecht zu begehen, einer der Ursprünge des Opfers ist. Der Jäger, der die Rache des Tiergeistes fürchtet, opfert, um die Schuld zu sühnen und das tote Tier zu besänftigen.

An die Ursprünge des Opfers angeschlossen

An diese atavistischen Gefühle knüpft Hermann Nitsch ab den 1960er Jahren mit seinem Orgien- und Mysterientheater an. Er arrangiert frisch geschlachtete Tiere, ausgestopfte Gedärme, hunderte Liter Blut und nackte Menschen zu skandalträchtigen Installationen. Die atavistischen, penibel geplanten Inszenierungen sind von einer Aura von "Ernst und einer großen Sache“ umgeben. Zur selben Zeit dominiert der industrielle Schlachtbetrieb immer mehr. Die Konsumenten sehen nur das portionierte Endprodukt am Teller, aber nicht die grausam geschlachteten Tiere. Die Formel des Priesters bei der Messe: "Seht das Lamm Gottes, es nimmt hinweg die Sünden der Welt“ ist so heute ein fast unverständlicher Rest nomadischer Opferriten.

Um dem Wandel der Verhältnisse Rechnung zu tragen, akzentuiert die große Liturgiereform des II. Vatikanums in den 1960er Jahren, in etwa zur selben Zeit, die Rückkehr zum frühchristlichen Verständnis: nicht der Priester bringt stellvertretend das Kreuzesopfer Jesu dar, damit das Blut Jesu die Menschheit von Sünden reinige, sondern alle Gläubigen feiern gemeinsam - "das ganze Volk Gottes“ versammelt sich bei der "Eucharistie“, wörtlich "Danksagung“. Bemerkenswerterweise kritisieren vorwiegend Atheisten und Kirchenferne den Verlust der magischen Stimmung, die lateinisch sprechende, barock gewandete und vom Volk abgewandte Priester in ihrer Kinderzeit verbreitet hatten. Kirchliche Gruppen schließen sich an und schieben der Liturgiereform in die Schuhe, dass der Messbesuch ab Ende der 1960er Jahre massiv abnimmt - statt selbst kreativ auf die neuen Verhältnisse zu reagieren.

Eucharistie-Feier oder Mess-Opfer?

"Die Heilige Messe - kultisch, szenisch, sinnlich, mystisch“: unter diesem Titel versammelt der österreichische Komponist Peter J. Marthé Beiträge zu einer neuen Sicht auf die Messe. Unter den Buch-Autoren sind Nitsch, die Theologen Henri Boulad und Paul Zulehner, der Psychoanalytiker Arnold Mettnitzer, der Religionssoziologe Adolf Holl, die Karmelitin Waltraud Herbstrith; auf CD liegt Marthés "erdwärtsmesse“ bei.

Die Messe sei ein Gesamtkunstwerk, betont Marthé, und somit vom Künstler und nicht von der Gemeinde her zu denken. Der Komponist trifft sich in diesem Punkt mit den Event-Organisatoren der Weltjugendtage, zuletzt im August in Madrid, die ebenfalls ein kultisches Gesamtkunstwerk inszenieren wollen. Zentral dabei: das Messopfer, das, so Benedikt XVI., eine Einladung sei, an "Jesu Selbsthingabe teilzunehmen“ und "in Gemeinschaft mit ihm unser eigenes tägliches Opfer für das Heil der Welt darzubringen“.

In Spanien, wo rund 40 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind und die Sparmaßnahmen immer neue Opfer von der Bevölkerung fordern, erregte die Inszenierung des Weltjugendtages einigen Unmut. Die zeitliche Koinzidenz der Hervorhebung des Opfergedankens mit Sparmaßnahmen, die zugunsten der Stützung der Banken massive Einschnitte für die Bevölkerung bedeuten, ist eigenartig. Dabei sind die Opfer nicht nur in den Industriestaaten des Nordens zu finden. Noch mehr betroffen sind die Menschen im Süden - die zudem durch Landraub und Spekulation auf Lebensmittel in ein System gezwungen sind, in dem sie verhungern müssen. Diese strukturelle Gewalt fordert jede Minute ein Hungeropfer - atavis- tisch, aber deutlicher formuliert, wird jede Minute ein Blutopfer dargebracht - ein Symp- tom des Unheils. Wenn Joseph Ratzinger vom Heil durch tägliche Opfer spricht, muss er wohl etwas anderes gemeint haben. Das legt der renommierte Kirchenhistoriker Arnold Angenendt in einer eben erschienenen, fulminanten Studie über das Opfer nahe.

Angenendt hält fest, dass in der antiken Welt, aber auch im alten Israel blutige Opfer üblich waren. Doch griechische Philosophen wie auch die Propheten der Bibel lehnten das Blutopfer ab. Die Griechen betonen das "geistige Opfer“, das in einer ethisch korrekten Lebensführung besteht. Und beim Propheten Hosea heißt es: "Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer.“ Im Matthäusevangelium greift Jesus dies auf. Opfer heißt christlich: Solidarität und Wahrhaftigkeit. Dies buchstabiert Angenendt mit stupender Quellenkenntnis nach. Der Opferaltar wird christlich zur Metapher für das eigene Herz - denn wer solidarisch und wahrhaftig leben will, wird um unangenehme und einschneidende Situationen nicht herum kommen. Das gilt auch im säkularen Bereich. Die moderne Welt, so Angenendt, lebt von "Wahrheitszeugnis und Sozialverpflichtung“ - Demokratie, Wissenschaft und kritisches, soziales Engagement sind ohne persönlichen Einsatz nicht möglich.

Joseph Beuys statt Hermann Nitsch

Diese Bereitschaft kann durch totalitäre Regime missbraucht werden. Daher ist kritische Unterscheidungsfähigkeit notwendig. Denn oft agiert strukturelle Gewalt verschleiert. Für den hohen Fleischkonsum im Norden etwa wird viel Getreide aus dem Süden verbraucht. Das Ergebnis: weniger Anbauflächen für Menschen-Nahrung, steigende Lebensmittelpreise, mehr Hungertote.

Der Aktionskünstler Joseph Beuys, der wie Nitsch mit organischen Substanzen arbeitete - aber nicht mit Blut, sondern u.a. mit wärmendem Filz und nahrhaftem Honig - hätte Solidarität und Wahrhaftigkeit wohl als Orientierung für "soziale Plastiken“ akzeptiert. Mit diesem erweiterten Kunstbegriff bezeichnete Beuys das kreative Handeln aller, nicht nur der Künstler, zum Wohle der Gemeinschaft. Das "Messopfer“ ist, so gesehen, kein "Gesamtkunstwerk“ mit dem Priester als Zentralgestalt, sondern eine "soziale Plastik“ von Menschen, die sich um Solidarität und Wahrhaftigkeit bemühen und dies gemeinsam feiern.

Die Revolution des geistigen Opfers Blut - Sündenbock - Eucharistie

Von Arnold Angenendt, Herder 2011

179 Seiten, geb., € 19,50

Die Heilige Messe -kultisch, szenisch, magisch, mystisch

Mit Audio-CD der "erdwärtsmesse“, Hg. Peter J. Marthé, Echter 2011, 250 Seiten, geb., e 29,90

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