Das Ungeheuer Picasso

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"Wenn ein großes Schiff sinkt, werden einige Menschen mitgerissen": Leben im Schatten eines despotischen Genies

Wenn es Seezunge gibt, legt Paulo grundsätzlich die Gabel weg und isst mit den Fingern, denn alles, was die überlebensgroße Vaterfigur tut, ist richtig, und die überlebensgroße Vaterfigur isst Seezunge mit den Fingern. Die überlebensgroße Vaterfigur findet es lächerlich, sich die Nägel zu feilen, sie schleift sie sich an einer Mauerecke ab. Ein Leben lang tut Paulo, der Sohn, desgleichen, und seine kleine Tochter Marina läuft rot an und wird ganz krank vor Scham, wenn sie den Vater dabei sieht, weil ihr dabei die totale Abhängigkeit des Vaters vom Großvater vor Augen geführt wird. Das Kind Marina leidet, wenn sich der Vater vor dem Großvater duckt und von ihm erniedrigt wird.

Nun hat die 50-jährige Marina ein Buch über ihren Großvater mit dem stolzen Titel "Und trotzdem eine Picasso" geschrieben, das zunächst auf eine totale menschliche Demontage des Jahrhundertgenies hinausläuft. Es wäre auch dann ein aufschlussreiches und wichtiges Buch über Picasso, wenn es bei der Demontage bliebe. Doch dann kommen jene Seiten, durch die es zu einem großen Buch wird. Nachdem sich Marina Picasso in einer langen psychotherapeutischen Behandlung vom Druck der Großvaterfigur befreien konnte, beginnt sie Picasso zu verstehen. Sie ist nun fähig, sein Verhalten, das sie als unbegreiflich und unmenschlich erlebte, mit einfachen Worten zu erklären:

"Nichts von alledem, was auf der Skala der Gefühle üblicherweise eine Rolle spielt, hatte für ihn Bedeutung. Er liebte das Geld, um davon Häuser zu kaufen, in denen er malen konnte. Er verkaufte sie wieder, wenn sie nicht mehr ausreichten, um seine neuen Werke aufzunehmen. Er mochte es nicht, sich zum Essen an den Tisch zu setzen. Das war vergeudete Zeit, die er für seine künstlerische Arbeit brauchte. Er verachtete all die Eitelkeiten, die mit Reichtum verbunden sind. In seinen abgewetzten Kleidern hätte man ihn für einen Clochard halten können. Der ganze Hofstaat, der sich ständig drängte, um den Meister zu besuchen, war ihm völlig egal. Er nannte ihn seinen ,Froschteich'. Am Ende seines Lebens, als er nur noch allein sein wollte, um mit seinen letzten Kräften künstlerisch zu arbeiten, hatte er alle aus seiner Umgebung verbannt. Wir gehörten dazu."

Picassos Enkelkinder aus der ersten Ehe mit der russischen Tänzerin Olga Kochlova wuchsen in Armut auf. Picassos Gleichgültigkeit gegenüber diesen Enkeln hatte mit seiner Abneigung gegen die Schwiegertochter zu tun. Émilienne Lotte hatte Paulo um den Namen Picasso willen geheiratet, aber ihre Hoffnung auf Reichtum und Rang hatte sich zerschlagen und die Ehe war bald geschieden worden. Andererseits hatte Picasso den Sohn immer als Eigentum behandelt, wobei das Ego des Sohnes in Brüche gegangen war. Paulo musste mit seinen Kindern Pablito und Marina in unregelmäßigen Abständen um Geld vorsprechen. Kinder haben ein feines Gespür für die Erniedrigungen, die ihren Eltern widerfahren. Die Enkelkinder empfanden die Besuche beim Großvater als quälend und entwürdigend.

Der Vater läutet am Gartentor von "La Californie". Der italienische Diener kommt ans Tor. Man ist angemeldet, man wartet in Hochspannung, dann der Bescheid des alten Dieners: "Der Meister kann Sie heute nicht empfangen. Madame Jacqueline hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass er arbeitet." Oder man empfängt den Bescheid: "Der Meister schläft." Jacqueline wartet sogar mit der Botschaft auf: "Die Sonne wünscht nicht, dass man sie stört."

Wird man vorgelassen, muss man warten. ",Macht vor allem keinen Lärm und fasst nichts an!' beschwor uns Jacqueline. ,Die Sonne wird gleich zu uns herunterkommen.' Esméralda, die Ziege meines Großvaters, folgt ihr auf dem Fuße. Esméralda darf alles: im gesamten Haus herumspringen, ihre Hörner an den Möbeln wetzen, ihre Kotkugeln auf Picassos Zeichnungen und Bilder fallen lassen, die überall auf dem Boden verstreut liegen. Esméralda ist hier zu Hause. Wir sind Eindringlinge." Bevor man wieder geht, fährt die Hand des Großvaters in die Hosentasche und drückt dem Vater ein Bündel Geldscheine in die Hand, Lohn für geleistete Chauffeurdienste.

Die Kinder wachsen bei der Mutter auf. Der Vater zeigt sich sporadisch. Nie genug Essen im Haus. Die enervierenden Monologe der Mutter. Auch die Mutter ist eine ziemliche Katastrophe. Später kommen die Kinder in ein standesgemäßes Internat. Die Zahlungen des Großvaters tröpfeln. Nur das Allernötigste. Picasso ging als der große Zertrümmerer der Formen in die Kunstgeschichte ein. Offenbar ging er mit Menschen ähnlich um wie mit den Formen. In seinen letzten Lebensjahren wurden die Enkel nicht mehr vorgelassen: "Der Meister ist nicht da, aber Sie können ihm schreiben." Wahrscheinlich hat Jacqueline die Briefe zerrissen. "Wenn ich einmal sterbe," sagte Picasso, "wird es ein Schiffbruch sein, und wenn ein großes Schiff untergeht, werden einige Menschen im Umkreis vom Strudel mitgerissen."

Marie-Thérèse Walter, Picassos Vielgemalte, erhängte sich an der Decke ihrer Garage. Jacqueline, die letzte Frau, starb durch eine Kugel in die Schläfe. Marinas älterer Bruder Pablito beging vier Tage nach Picassos Tod Selbstmord, nachdem ihm der Aufseher am Gartentor den Zutritt zum Totenbett verwehrt hatte: "Sie dürfen hier nicht herein. Ich habe Anweisung von Madame Picasso. Machen Sie, dass Sie wegkommen, oder ich lasse die Hunde los!" Marina: "Es stimmt, viele sind vom Strudel mitgerissen worden. Pablito, mein unzertrennlicher Bruder, der zwei Tage nachdem mein Großvater in Vauvenargues beerdigt worden war, Selbstmord beging. Mein Vater, dieser zerbrechliche Riese, ist zwei Jahre später wie eine unglückliche Waise gestorben."

Marina verdankt ihr Überleben "meiner Lebensgier und dem Kampf gegen einen Großvater, von dem ich geträumt habe". Picassos Tod bedeutete, obwohl sie auf einen großen Teil ihrer Erbschaft zugunsten anderer verzichtete, für Marina den Reichtum: "Picasso, dieser unmögliche Großvater, den ich immer nur in Espadrilles gesehen habe, in alten Shorts und mit einem durchlöcherten Unterhemd bekleidet, dieser alte Spanier, der unendlich vielmehr Anarchist als Kommunist war, hätte sich niemals vorstellen können, dass sein Name eines Tages - über seine Malerei hinaus - eine Geldmaschine werden würde, die unaufhörlich produziert. ... Eingesponnen in sein Werk hatte er jeden Kontakt zur Wirklichkeit verloren und sich in eine innere Welt zurückgezogen, zu der es keinen Zugang gab." Erst nach Jahren fand Marina die psychische Kraft, sich ihre Picassos anzusehen - und lief davon. Als sie dann doch einige in ihre Wohnung bringen ließ, standen sie monatelang mit der Bildseite zur Wand in einem Zimmer, das sie nur unter Angstzuständen betreten konnte.

Marina Picassos beide Kinder sind erwachsen. Sie bewohnt die riesige Villa "La Californie" mit drei vietnamesischen Adoptivkindern, denen sie die Liebe gibt, die ihr vorenthalten wurde. Sie hat in Vietnam ein Dorf für 350 Waisenkinder gebaut, kleine Häuser mit Küche, Badezimmer, Ess- und Schlafzimmern. Sie plant eine Schule, eine Sporthalle, ein Stadion, ein Schwimmbad und einen Park. Sie finanziert Brunnen in vietnamesischen Dörfern, plant ein Dorf für Kriegsveteranen und Alte und beteiligt sich an der Finanzierung von Stipendien für 200 Studenten und für den Ausbau der Kinderkrankenhäuser. Sie besitzt keine Yacht, hat nie ein Privatflugzeug gechartert und steigt nicht in Luxushotels ab:

"Das also ist mein Leben. ,Wenn ich kein Blau habe, dann nehme ich Rot', sagte Picasso, mein Großvater. Ich war gezwungen, sämtliche Farben zu verwenden, die das Schicksal für mich vorgesehen hatte. Mag sein, dass mein Leben wie ein Kunstwerk gewesen ist, aber ich hoffe, dass meine Kinder es nicht danach beurteilen werden, wenn sie es an der Wand ihrer Erinnerung aufhängen."

UND TROTZDEM EINE PICASSO

Leben im Schatten meines Großvaters Von Marina Picasso

List Verlag, München 2001.

198 Seiten, geb., Fotos, öS 314,-/e 22,82

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