Die Suche nach der richtigen Zeit

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Zeit im öffentlichen Raum: Mit der Modernisierung des städtischen Lebens entstand auch die Notwendigkeit einer allgemein verbindlichen, astronomisch exakten Zeitangabe.

"Man weiß bei uns wahrhaftig immer noch nicht, wie viel es geschlagen hat. Da ist ein Uhrmacher, dessen ‚richtige Zeit‘ die erste Stunde angibt, auf der Kirchenuhr gegenüber aber ist es zehn Minuten mehr oder weniger, und der nächste Uhrmacher hat schon wieder eine andere ‚richtige Zeit‘. Nicht einmal auf die Bahnhofuhren ist Verlaß, und auf die in den öffentlichen Gebäuden und Aemtern erst recht nicht.“

Mit zunehmender Empörung registrierte man in Wien um 1900 die seit Jahrzehnten bestehende "Uhrenmisere“. Immerhin rund 70 öffentliche Uhren gab es damals in der Stadt, aber wohin man auch blickte, beinahe jede von ihnen zeigte eine andere Stunde oder war einfach gar nicht in Betrieb. So war die wichtigste Wiener Uhr, jene am Stephansdom - wie der "Steffl“ selbst - stets in Reparatur; bei der Uhr an der Mariahilfer Kirche fehlten lange Zeit gar die Zeiger; und die pneumatische Uhr am Schottenring zeigte gar auf jedem ihrer drei Zifferblätter eine andere Zeit, wahrscheinlich, so witzelte man, "um den verschiedenen Zeitwünschen der Passanten gerecht zu werden“.

Verdichtete zeitliche Vernetzung

Ein Übelstand, der sich ganz direkt auf das Alltagsleben auswirkte, denn die öffentlichen Uhren waren es, nach denen man seine privaten Uhren richtete. Taschenuhren und in zunehmendem Maße auch Armbanduhren regelten den Tagesablauf, verdichteten die zeitliche Vernetzung der Großstadt, deren Rhythmus sich immer mehr den abstrakten Einheiten der Uhr anpasste. Verkehrsströme, Zirkulationen von Menschen und Waren mussten aufeinander abgestimmt, möglichst reibungslos und effizient organisiert werden. Die bürgerliche Tugend, keine Zeit zu vergeuden, war zum bestimmenden Faktor geworden - auch und insbesondere in der Stadt.

Auf internationaler Ebene wurde die Vielzahl der bisher bestehenden nationalen, regionalen und lokalen Zeiten beseitigt. Am 1. Mai 1910 führte man auch in Wien die "Mitteleuropäische Zeit“ ein. Die letzten ortszeitlich bedingten Differenzen gehörten endgültig der Vergangenheit an, ab nun liefen die Uhren in Wien mit der übrigen Welt synchron.

Doch wie sollte die Bevölkerung erkennen, welche der zahlreichen öffentlichen Uhren nunmehr wirklich die exakte Zeit anzeigten? Auf der Suche nach der richtigen Zeit half das sogenannte Mittagszeichen, ein elektronisches Signal, das die Universitätssternwarte täglich Punkt zwölf Uhr an ausgewählte öffentliche Stellen sandte, konkret an die Feuerwehrzentrale Am Hof und die magistratischen Bezirksämter. Die dortigen Uhren, so wusste man also, gingen richtig. Auch das Militärgeografische Institut am Friedrich-Schmidt-Platz hatte ein eigenes Mittagszeichen und somit eine Uhr, auf die Verlass war.

Und schließlich wurde 1911 auch die später populär gewordene "Urania-Zeit“ eingeführt. Das neu errichtete Volksbildungshaus am Donaukanal besaß eine eigene Sternwarte, an die eine Zentraluhranlage angeschlossen war. Um der "leidigen Uhrenkalamität in Wien“ ein Ende zu setzen, wurde die richtige Zeit von hier aus in dreierlei Weise verkündet: durch eine Uhr, an der Außenfassade des Gebäudes angebracht und hier Tag und Nacht ablesbar; durch eine telefonische Zeitansage, die - zumindest anfangs - nur für Abonnenten zugänglich war; und durch ein akustisches Signal, den sogenannten "Mittagsschuss“, der von einer kleinen Kanone vom Dach der Urania abgefeuert wurde.

Letzterer sollte die Glockenschläge der Kirchturmuhren ersetzen, die nur allzu oft nacheinander statt gleichzeitig erklangen. Der Kanonenschuss als nunmehr weithin hörbares, säkuläres Zeichen signalisierte militärische Präzision und absolute Verlässlichkeit.

Schon bald war der Mittagsschuss derart populär, dass sich regelmäßig zur Mittagszeit eine kleine Menschenmenge vor der Urania einfand, die ihre privaten Uhren danach richtete. Ihr war der Mittagsschuss inzwischen zum unverzichtbaren Gradmesser für die persönliche Zeiteinteilung geworden.

Bisweilen musste man allerdings unverrichteter Dinge abziehen, denn immer wieder kam es vor, wie uns Friedrich Wilhelm Schembor in seiner profunden Geschichte der Urania-Sternwarte erläutert, dass der Schuss aus technischen Gründen ausfiel. Ein unangenehmes Missgeschick, das dann sogleich in den Zeitungen Erwähnung fand. So berichtete etwa die Neue Zeitung am 20. Juni 1912: "Vor dem Uraniagebäude hatten sich gestern mittags wie alltäglich die Kiebitze des ‚Mittagsschusses‘ eingefunden, um ihre Uhr astronomisch genau zu stellen. Der Mittagsschuß war infolge ‚Versagers‘ ausgeblieben und der neuerlichen Einschaltung stand der eigentliche Zweck des Signals, die Anzeige des astronomisch genauen ‚Mittags‘ entgegen. Kopfschüttelnd entfernten sich die Enttäuschten.“

Kein Mittagsschuss im Sommer 1914

Es war fatal. Nachholen ließ sich dieses Zeichen per se nicht. Es galt, sich abzufinden mit einer Wartezeit von mindestens einem Tag. Nachdem der Mittagsschuss im Sommer 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, symbolhaft ausgesetzt wurde, nahm man ihn im November des Jahres wieder auf. Jedoch zeigten sich auch in den folgenden Jahren weiterhin gravierende Unzulänglichkeiten personeller und technischer Art. Das für einen Großteil der Stadt zur Richtschnur gewordene Signal war im Februar 1916 an manchen Tagen gar nicht, an manchen wiederum fünf und einmal sogar zehn Minuten zu früh erklungen.

Die Vorfälle wurden untersucht, und als es auch ein Jahr später ähnliche Ungenauigkeiten gab, wurde der Mittagsschuss eingestellt. Sehr zum Bedauern der Bevölkerung, die den Taktgeber ihres Alltags vermisste und deren Sehnsucht nach Pünktlichkeit durch die anderen öffentlichen Uhren der Stadt nach wie vor keineswegs gestillt war.

"Sozialdemokraten! Achtung …“

Jahre später ersuchte die Urania die zuständigen Stellen daher erneut um Bewilligung zum Betrieb einer Signalkanone, nicht zuletzt, weil diese sich als wichtiger Imageträger herausgestellt hatte, der "die Volkstümlichkeit und das Ansehen unseres Volksbildungshauses erhöhte“. Die Polizeidirektion erteilte die Genehmigung zum Betrieb eines Minenwerfers, Modell 17 der Pilsener Sˇkodawerke. Ab Herbst 1923 war der Schuss somit wieder regelmäßig über der Stadt zu hören.

In den politisch unruhigen Jahren der Zwischenkriegszeit, die von polarisierenden Klassengegensätzen und zunehmender Gewaltbereitschaft auf der Straße gekennzeichnet waren, ein durchaus symbolhaftes Zeichen. So ätzte das radikale Satireblatt Kikeriki: "Sozialdemokraten! Achtung auf diese kriegsmäßige Einrichtung!“

Auch diesmal kamen in der Folge Versager und bisweilen auch Doppelschüsse vor. Ein störungsfreier Betrieb, so schien es, war mit den damaligen Mitteln einfach nur schwer aufrechtzuerhalten. Die Bevölkerung mokierte sich zunehmend über die Anlage, die ganze Institution Urania geriet in Misskredit. Im Jahr 1928 wurde der Mittagsschuss daher endgültig eingestellt. Zwar versuchte man noch an seiner Stelle ein optisches Zeichen, einen weithin erkennbaren "Zeitball“, einzuführen, dieses Vorhaben scheiterte jedoch.

Ein besonderes Kapitel in der akustischen Geschichte der Stadt ging zu Ende. Was blieb, war die Urania-Uhr an der Seitenfront des Gebäudes, die zur Pilgerstätte für alle Pünktlichkeitsfanatiker avancierte und - kürzlich renoviert - noch heute an die Wichtigkeit einer exakten öffentlichen Zeitangabe erinnert.

* Der Autor ist Historiker, Stadtforscher und Bereichsleiter im Technischen Museum Wien

Normalzeit - Öffentliche Uhren und Stadtdesign

Zu diesem Thema gibt es im Rahmen der "Vienna Design Week“ eine Buchpräsentation sowie einen Vortrag & Diskussion (u. a. mit Peter Payer): 9. Oktober, 11 Uhr, Technisches Museum Wien.

www.technischesmuseum.at

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