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War der 15. Juli 1927 die Frucht der verbalradikalen sozialdemokratischen Rhetorik? Zu Norbert Lesers neuem Buch, Teil II.

Friedrich Austerlitz, der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung, hatte sich gerade die Empörung über den Freispruch der Todesschützen von Schattendorf von der Seele geschrieben, als eine Delegation der E-Werksarbeiter ins "Vorwärts"-Haus auf der Wienzeile kam. Er konnte ihr keine klare Weisung geben, Otto Bauer ließ sich verleugnen. Man könne die Arbeiter nicht immer zurückhalten, die Bürgerlichen sollten einmal sehen, dass sie sich nicht alles gefallen ließen, es werde schon nichts geschehen: So beschrieb Otto Bauers enger Mitarbeiter Otto Leichter 1934 rückblickend die Stimmung.

Demonstriert sollte werden. Aber eine Demonstration gegen das Urteil unabhängiger Geschworener organisieren wollten die Arbeiterführer auch nicht. Nach scharfen Worten gegen das Bürgertum von der Parlamentsrampe würden sie die Arbeiter wieder an ihre Arbeitsplätze schicken. Es war kein kalkuliertes Risiko, offenbar erkannte niemand, dass es ein Risiko gab. Die Arbeiterführer mobilisierten den Schutzbund nicht, und die Staatspolizei soll einen Teil der in Bereitschaft gehaltenen Mannschaften heimgeschickt haben, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass keine Aktionen geplant seien. Als sie gebraucht wurden, steckten die Schutzbundleute in der Masse der Demonstranten, und als die Polizei den Schiessbefehl bekam, hatte sie Übungsmunition bei sich, welche die katastrophale Wirkung von Dumdumgeschossen entfaltete.

Enttäuscht und erbittert

Im Klima der Gewalt waren die Schützen von Schattendorf in der linken Presse zu "Arbeitermördern", ja "gedungenen Meuchelmördern" geworden. Was im konkreten Fall überzogen war, aber für vorangegangene Bluttaten zutraf. Der "Zusammenstoß" von Schattendorf war nur einer aus einer Reihe von Vorfällen, bei denen mit der Absicht zu töten, auf Arbeiter geschossen worden war. Das Buch "Von Schattendorf bis Wien" enthält auch die Rekapitulation dieser Ereignisse von Gerhard Botz.

Das Fehlurteil ließ das Fass des Zornes überlaufen. Voll war es längst. Die "Stabilisierungskrise" hatte in der Eisen- und Metallindustrie 30, im Handel und Verkehr 17 und im Bekleidungssektor 19 Prozent arbeitslos gemacht. Besondere Empörung löste aus, dass die Opfer von Schattendorf ein Kriegsinvalider und ein Kind gewesen, dass sie von hinten erschossen worden waren, dass es nicht einmal einen Schuldspruch wegen öffentlicher Gewalttätigkeit gab. Während ihre Führung nach den Nationalratswahlen vom 24. April, bei denen die Sozialdemokraten die 40-Prozent-Marke übersprungen hatten, Selbstbewusstsein zur Schau trug, machte das Urteil den Arbeitern ein weiteres Mal ihre reale Ohnmacht bewusst. Trotz oder gerade wegen des Wahlerfolges habe sich, zitiert Norbert Leser Otto Bauer, eine "Stimmung der Enttäuschung und Erbitterung" verbreitet.

Publizistisches Öl ins Feuer

Ohne zu ahnen, dass sein Leitartikel nicht als Ventil, sondern eskalierend wirken würde, sprach Austerlitz in der Arbeiter-Zeitung von eidbrüchigen Gesellen auf der Geschworenenbank, die sich frech über Recht und Gesetz hinwegsetzten, sprach ihnen jegliches Rechtsempfinden ab, fragte, ob dieser Freispruch nicht schon selbst der Bürgerkrieg sei. Auf der anderen Seite lautete die triumphierende Überschrift der christlichsozialen Reichspost: "Ein gerechtes Urteil". Sie wurde als Verhöhnung der Opfer empfunden.

So nahm das Verhängnis nach Arbeitsbeginn mit stürmischen Protestversammlungen in vielen Großbetrieben seinen Lauf. Schutzbund-Obmann Julius Deutsch mag die Gefährlichkeit der Situation erkannt haben, als er die Arbeiter des E-Werks, in dem es eine starke kommunistische Fraktion gab, davon abhalten wollte, den Strom der Straßenbahn von acht bis neun Uhr abzuschalten - vergeblich. Um acht Uhr, als bereits Tausende in losen Gruppen oder geschlossenen Zügen in die Innenstadt strömten, ersuchte Deutsch die Polizeidirektion, genug Polizisten bereitzustellen, "um alle Hitzköpfe in Schranken zu halten", sie aber nicht zu bewaffnen, "denn das könnte die Demonstranten provozieren".

Gegen halb zehn näherte sich der von der Alser Straße kommende Zug aus dem E-Werk, der aus vielen Seitenstraßen Verstärkung bekommen hatte, dem Parlament. Als dort der Druck wuchs, ließ Stadthauptmann Tauß eine Reiterattacke unternehmen. Weitere kopflose Angriffe berittener Polizei erreichten, dass sich die Menge auf dem Schmerlingplatz mit Steinen bewaffnete, Barrikaden errichtete und gegen die Wachleute vor dem Justizpalast vorging. In der Folge wurde das Wachzimmer in der Lichtenfelsgasse gestürmt, fielen die ersten Demonstranten Schüssen von Polizisten zum Opfer, die ihrerseits in Privatwohnungen Schutz suchten, rettete der spätere Bundespräsident Theodor Körner bedrohte Richter, Beamte und Polizisten, wurde die Redaktion der deutschnationalen "Wiener Neuesten Nachrichten" in der Josefsgasse verwüstet.

Um zwölf stiegen Demonstranten durch die Fenster in den Justizpalast ein, begannen Möbel zu zerschlagen und Akten auf die Straße zu werfen. Die Feuerwehr wurde um 12.28 Uhr von Bränden im Justizpalast verständigt, kam, wurde aber nicht durchgelassen. Bürgermeister Seitz, der die Demonstranten, Zehntausende nun, vom Löschwagen beschwor, Vernunft anzunehmen, wurde von der Menge, die "jetzt teilweise unter kommunistischem Einfluß stand, beschimpft und sogar tätlich angegriffen, so daß er resigniert aufgeben mußte" (Botz). Auch das Gebäude der Reichspost in der Strozzigasse wurde verwüstet und angezündet, hier konnte die Feuerwehr den Brand löschen.

Der weitere Hergang wurde rekonstruiert, so weit dies überhaupt möglich ist. Botz gelangen mittels des Schlagschattens auf Fotos Zeitbestimmungen, wonach die Menge erst nach dem Angriff berittener Polizei ihrerseits gewalttätig wurde. Gegen 14.30 Uhr fielen die ersten scharfen Schüsse der mittlerweile aufmarschierten bewaffneten Polizei. Halb ausgebildete Polizeischüler aus der Provinz, die als verlässlich galten, gingen rücksichtslos vor. Otto Bauer sah vom Parlament aus "die Leute in blinder Angst davonlaufen" und die Wachleute ihnen nachschießen. Selbst Vizekanzler Hartleb erinnerte sich später, die Räumungsaktion habe fallweise "ausgeschaut wie eine Hasenjagd". Das Feuer im Justizpalast hatte sich mittlerweile so ausgebreitet, dass die Feuerwehr nicht mehr viel tun konnte.

Die verbalradikale Saat

Viele der rund hundert Toten des 15. und 16. Juli, unter ihnen mehrere Polizeibeamte, von denen einer von den eigenen Leuten erschossen wurde, und der weit über tausend zum Teil schwer Verletzten, waren ahnungslos in das Ereignis hineingeratene Passanten.

Wenige Tage später waren Ansichtskarten der Tumulte mit der Inschrift "Die Wiener Schreckenstage am 15. und 16. Juli 1927" zu haben. Bundeskanzler Ignaz Seipel wies jede Mitschuld der Regierung am Blutbad zurück und erntete den Dank des Bürgertums. Große Teile der Bevölkerung fürchteten die Sozialdemokraten kaum weniger als die Kommunisten. Dank dieser Angst blieb Kritikern des Polizeieinsatzes wie Karl Kraus mit seinem Plakat, Polizeipräsident Schober möge zurücktreten, damals die Wirkung versagt. Seipel aber nutzte die Gunst der Stunde. Norbert Leser zitiert Klemens von Klemperer, Seipel sei "jene Großmütigkeit im Siegen, die zu Churchills Motto gehörte und die man von einem Geistlichen erwarten würde," nicht gegeben gewesen. Er kannte die wunden Punkte des Gegners und setzte nach dem 15. Juli die Abschaffung der Geschworenenjustiz an die Spitze seiner Forderungen.

Leser analysiert die Palette der Fehler, Sailer-Wlasits den Verbalradikalismus der Sozialdemokraten. Sie machen die Angst des Bürgertums und die weitere Entwicklung als Frucht des Feuers der Worte verständlich, untersuchen aber nicht, ob für die Sozialdemokraten überhaupt die Möglichkeit bestand, ihrer Anhängerschaft gegenüber so demokratisch, staats- und institutionentreu zu sprechen, wie es der Realität ihrer Politik entsprach. Gerade der 15. Juli bewies doch die Virulenz der kommunistischen Konkurrenz. Standen hinter dem Verbalradikalismus der Arbeiterführer in der Erwartungshaltung ihrer Wähler begründete Zwänge? Hätten sie anders reden können, als sie redeten? Welche Rolle spielte die Konkurrenz der KPÖ? Auch diese Fragen müßten in einem solchen Buch beantwortet werden, wenn wir den 15. Juli mit seiner Vor- und Nachgeschichte verstehen sollen. Aber das letzter Wort ist noch immer nicht gesprochen. Gerhard Botz plant eine weitere Dokumentation zum Thema.

1927 - ALS DIE REPUBLIK BRANNTE

Von Schattendorf bis Wien. Herausgeber: Norbert Leser und Paul Sailer-Wlasits, mit Beiträgen von Gerhard Botz, Wolfgang Dax, Helmut Stephan Milletich und Pia Bayer, Edition Va Bene, Wien 2002, 216 Seiten, geb., Fotos, e 21,90

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