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AGNES MIEGEL / HEIMAT UND SCHICKSAL

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Lauge dauerte es, bis die schreibenden Frauen aus der früheren Umgrenzung heranwuchsen, kamen sie doch im wesentlichen vom Bildungsideal der Frauenbewegung her, aus einer Zeit, da sich die Frau bemühte, den ihr gebührenden Platz im Bildungsleben einzunehmen. Es ist kein Zufall, daß Agnes Miegel ursprünglich Lehrerin werden wollte und später journalistisch arbeitete. Die äußeren Schwierigkeiten, die sich noch aus dem Zustand des 19. Jahrhunderts herleiteten, wurden vermehrt durch die verhehlte Tatsache, daß Ostpreußen auch noch zur Zeit, da es in einem Reichsverband ohne trennende Grenzen sein eigenes Dasein bestimmte, als eine Art ferner Insel angesehen wurde, der zu entfliehen so manche Persönlichkeit lockte — denken wir nur an Arno Holz und Ernst Wiechert. Gewiß, die Dichterin weilte nicht ungern in Berlin, reiste nach Frankreich und England; aber diese Welt da draußen hielt sie nicht fest. Ihre Heimat war das einsame, vom Schicksal der Jahrhunderte gezeichnete Land jenseits der Weichsel, war die Stadt Kants und Hamanns: Königsberg. Dort wurde sie als Tochter eines Kaufmanns am 9. März 1879 im Kneiphof, nahe am Pregel, geboren. Ihre mütterlichen Vorfahren stammten aus dem Salzburgischen. „Wenn ich heimfahre”, so sagte sie einmal bei einem Besuch in Wien, „nehme ich wie ein Vogel den Tau und den Regen mit, der über den Bergen Oesterreichs fällt.”

Agnes Miegel spricht in der Einleitung zu den Erzählungen „Unter hellem Himmel” denn auch von dem „milden Vaterland” der Vorväter, „das sie und mich speiste wie der Speicher die Tauben, Beginn und Schicksal und letztes Ziel unserer Vergänglichkeit, uns überdauerndes Gleichnis des Höchsten”. Alle ihre Fahrten waren eine Heimkehr. „Jede dieser Fahrten bestätigte mich vor mir selbst, zeigte mir, daß ich mit meiner Gabe — wenn auch immer noch ein bißchen mit Bangen erlebte Magie blieb - anderen dienen, sie erfreuen und trösten, ja sogar lehren konnte.” So erfüllt sich in einem höheren Sinne der Wunsch von einst, Lehrerin zu werden.

Der Ruhm Agnes Miegels ging von ihren Balladen aus. Börries, Freiherr von Münchhausen, druckte die Verse der Zwanzigjährigen im „Göttinger Musenalmanach” ab. Später sagte er einmal von ihr: „Keiner von uns kann, was sie kann, keiner.” Mit Ausnahme zweier Pensionsjahre in Weimar und der Vortragsreisen blieb diese Frau schicksalhaft der Stadt verbunden, die 1945 unterging. Zwei Jahre verbrachte sie in einem dänischen Flüchtlingslager. Die Abendsonne ihres Lebens leuchtet ihr in dem hannoverschen Bad Nenndorf. Ehrendoktor der Alber- tus-Universität Königsberg, Träger des Herder-, Kleist- und Goethe-Preises, ist ihr vor einigen Jahren die Auszeichnung einer imponierenden sechsbändigen Gesamtausgabe bei Diederichs, Düsseldorf, zuteil geworden. Hier wjrd deutlich, daß Agnes Miegel nicht bloß die letzte große Persönlichkeit in der Balladendichtung der deutschen Sprache ist, sondern daß sie ungemein stimmungsgeladene Erzählungen, oft vor dem Gewitterhintergrund der Geschichte, poetische Stimmungsbilder und Märchen sowie sehr beachtliche dramatische Dichtungen geschaffen hat. „Und laß ein Lied von mir in unsrer Jugend leben” — dieser Wunsch hat sich, wie die Schullesebücher zeigen’, längst erfüllt. Für diese Jugend, die geboren wurde, als das Land in Flammen aufging, ist die Frau, die tapfer ihr Schicksal trug und mit zitternder Hand weiterschrieb, ein Beispiel, dem man nachleben kann. Ohne Haß, ohne Furcht.

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