Lauter liebe Zeitgenossen

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Ich passe irgendwie nicht mehr in unsere Welt der zunehmenden Liebenswürdigkeiten. Wohin ich auch schaue, überall liebe, zärtliche, rücksichtsvolle Menschen, die von Selbstverleugnung nur so triefen. Sie, diese vielen braven Bestmenschen, lesen alle meine Wünsche, vor allem wenn sie Optiker sind, stets von meinen Augen ab.

Mit einem Wort: die Menschen sind großartig und formvollendet.

Vor einiger Zeit las ich in der Furche einen bemerkenswerten Beitrag über das großartige - eben: formvollendete - Benehmen junger Menschen, die in Tram und Bus dafür sorgen, daß ihre älteren bis greisen Mitmenschen - zwecks Fitneß - stets stehenbleiben können, nachdem diese prachtvollen jungen Zuvorkommenden aufopferungsvoll alle Sitzplätze mit sich und ihren Schultaschen belegen.

Nicht dieser prachtvollen Jugend, sondern uns, die diese Kinder fortschrittlich-antiautoritär erzogen haben, gehört unser ganzer Dank und unsere Bewunderung.

Diesem formvollendeten Beispiel junger Menschen folgen auch gar nicht so wenige Ältere, die meinen Informationsstand über alle Krankheiten ihrer Freunde und Familie nicht nur in den Wartezimmern der Ärzteordinationen, sondern auch in Bus und Tram lauthals bereichern. So bin ich heute vielleicht Österreichs bestinformierter Medizinsoziologe, der nicht nur die "Gallensteine meiner besten Freundin Amalie" kennt, sondern auch den "Magendurchbruch vom Onkel Pepi" zu schätzen gelernt hat.

Inmitten dieser unzähligen, wahrhaft formvollendeten Menschen komme ich mir - und erst den anderen - recht "unformvollendet" vor.

Als Schaf im Wolfspelz zeige ich mich - ein weiteres Zeichen meiner Unformvollendetheit - oft und recht kriegerisch. Nach dem Motto - "Verteidigung ist der schlechteste Angriff" - lebend (wenn auch nie denkend) bin ich stets bemüht, meinen formvollendeten Mitmenschen recht- und frühzeitig entgegenzukommen. Mein freundliches "Entgegenkommen" erinnert mich manchmal an die dreißigjährige, etwas kriegerische Nächstenliebe zwischen Katholiken und Protestanten.

Der Krieg der Kirchen und Konfessionen, Nationalisten und Nihilisten ist jedoch nicht mein Gebiet. Wenn ich schon Kriege beobachte, dann nur "Rosenkriege", an dessen Anfang fast immer das formvollendete Nebeneinander steht. So studiere ich gerne in Restaurants und Kaffeehäusern Menschenpaare, die stundenlang weder Wort noch Geld wechseln (Mein Freund Mike: "Was habe ich vorhin gesagt ...?!) und penibel genau stets in unterschiedliche Richtungen schauen und höchstens böse Blicke miteinander tauschen. Diese partnerschaftslosen Paare sitzen formvollendet da und belästigen nie ihre Umwelt durch lautes Lachen. Im Gegensatz dazu benehmen wir, meine geliebte Frau Helga und ich, uns ziemlich unformvollendet fröhlich diskutierend.

Apropos: Helga. Da wir eine männerführerscheinlose Ehe führen, lenkt sie nicht nur unser ganzes Leben, sondern auch unseren kleinen roten Volvo "WIKI", dessen Name keinen Wikinger-Jungen, sondern unsere zwei Lebenspunkte "Wien-Kirchschlag" (bei Linz) abkürzt. Helga, wie viele Frauen hinter dem Lenkrad, fährt gut, präzise und defensiv. So erleben wir auf der Autobahn pausenlos formvollendet-schneidige Autofahrer, die uns mit 160-170-"Sachen" überholen und dabei nie auf einen freundlichen "Vogelzeigen"-Gruß vergessen.

Besonders freut es mich als gebürtiger Ungar, wenn meine einstigen Landsleute mit ihren nagelneuen Mercedes- und BMW-Autos uns auf der Westautobahn fast schon im Flug überholen. Gastfreundliche Menschen, wie die Ungarn es sind, suchen stets die Nähe der anderen; auch auf unseren Autobahnen, und so "picken" sie, vor dem erzwungenen Überholmanöver, fast schon auf WIKIS Stoßstange. So sind meine hunnischen Blutsbrüder, die nicht nur in EU und NATO, sondern auch in Salzburg nicht schnell genug sein können.

Stunden- und seitenlang könnte ich über viele meiner formvollendeten Zeitgenossen berichten. Ich treffe sie auf Schritt und Tritt, wobei letztere in mir häufig ausgesprochene Geberlaunen auslöst. Obwohl ich Mitglied mehrerer Minderheiten bin - darunter die der Unformvollendeten - und daher Anpassung mein Lebensprinzip ist, fällt es mir außerordentlich schwer, in die bunte Rolle der vielgesichtigen "Formvollendeten" zu schlüpfen.

Ich bleibe lieber - trotz Drohungscharakter - so wie ich bin.

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