Seitenblick nach Norwegen

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Jan Kjaerstads neuer Roman blickt hinter die Fassade des Fernsehens und des Starruhms.sdfsdf

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Jan Kjaerstads neuer Roman blickt hinter die Fassade des Fernsehens und des Starruhms.sdfsdf

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Jan Kjaerstad hat Theologie studiert und war Rock- und Jazzmusiker, bevor er sich dem Schreiben zuwandte und einer der bedeutendsten, meistausgezeichneten Autoren Norwegens wurde. Sein neuester Roman handelt von der Religion der kleinen Leute, dem Fernsehen, das auch in Norwegens Haushalten den Herrgottswinkel abgelöst hat.

Jonas Wergeland verführt das TV-Publikum und wird verführt - von den Frauen im realen Leben. Als er von einer ausgedehnten Reise zurückkehrt, findet er seine Frau ermordet im Wohnzimmer. Im Schock läßt er sein Leben Revue passieren und bemerkt, daß er nur noch in Kameraeinstellungen denkt. Zu lange hat er die Wirklichkeit in Farbkompositionen, Kameraachsen und Beleuchtungsdetails zerlegt. Die Fiktion verschwimmt mit realen Erinnerungen, bestimmte Filmkader seines Lebens tauchen immer wieder auf.

Da ist sein Vater, Organist in der Kirche, der sich liebevoll um ihn kümmert und ihm das Innenleben der Orgel erklärt, bei dem er als Kind Zuflucht und Ruhe findet. Seine Kinderfreundin Nefertiti, mit der er Streifzüge in die Natur und in die Phantasie unternimmt, bis er sie bei einem Radunfall verliert. Der Onkel, der sich mit "legitimen Betrügereien" in der Finanzwelt sein Geld verdient, und Kunst und Intellekt verachtet. Die verrückte alte Tante Laura, die Teppiche und Penisabbildungen sammelt und in einer Märchenwelt lebt. Ein alter Seebär namens Gabriel, der Jonas von seinen Reisen und Lebensweisheiten erzählt und ihm rät, zum Fernsehen zu gehen und "ein König zu werden".

Doch erst muß er sich noch durch die Schule quälen, in der hilflose Lehrer, von den Provokationen einiger Schüler überfordert, in Allgemeinplätze flüchten, was ihnen nur noch mehr Spott einbringt. Jonas Wergeland ist ein Kind des aufstrebenden Norwegen, "das zunehmend nach den glatten eindimensionalen Prinzipien des Neokapitalismus regiert wird, obwohl einst selbst die bürgerlichen Parteien die Grundgedanken der Sozialdemokraten gehütet hatten." Die Eltern leben in bescheidenem Wohlstand, die Jugendlichen demonstrieren gegen den Vietnamkrieg und experimentieren mit der freien Liebe und die am meisten Bewunderten sind die erfolgreichreichen Eisschnelläufer auf dem Olympiade-Siegerpodest. Jonas möchte immer anders sein als alle anderen. Wie werde ich der, der ich bin? Wie erschließe ich alle Möglichkeiten, die in mir sind? Das ist die zentrale Frage seines Lebens von Jugend an. Er interessiert sich für die Komoren und für die Rettung der Antarktis, er studiert Astronomie, um alles über den Planeten Pluto zu erfahren - und die Frauen, da sie ihm, dies sagt ihm sein Gefühl, all ihre Fähigkeiten und Energien übertragen und ihm völlig neue Welten erschließen. Schon beim ersten Casting wird er fürs Fernsehen entdeckt, sein Aufstieg im neuen, aufstrebenden Medium ist unaufhaltsam. Bald sind die Klatschspalten voll mit erfundenen oder wahren Details aus seinem Leben, er genießt es und nutzt die Popularität für die Realisierung seines ehrgeizigsten Fernsehprojekts. "Groß denken" heißt seine Serie über große Söhne Norwegens, deren Leben und Wirken er so rekonstruiert, daß ganz Norwegen erst am Fernsehschirm seine Helden und damit das eigene Selbstbewußtsein entdeckt. Wergeland weiß, daß es nur darauf ankommt, wie eine Geschichte erzählt wird, und daß das Fernsehen "so stark und so banal ist, ein ganzes Volk in fünf Minuten umzudrehen." Als er erkennen muß, daß es im Fernsehen hauptsächlich darum geht, die Menschen dazu zu bringen, "flach zu denken", wird er erstmals verunsichert. Dies und der tragische Tod seiner Frau bringen ihn dazu, sein eigenes Leben zu erzählen, zu versuchen, den roten Faden darin zu entdecken.

Kjaerstad schrieb einen modernen Heldenroman und adaptiert die Übertreibungen der Boulevardpresse bei der Berichterstattung über die Helden der Seitenblicke-Gesellschaft als witziges Stilmittel. Jonas denkt schon als Jugendlicher "groß" und läßt sich ausschließlich von Frauen verführen, die später berühmt werden. Er besteht große Abenteuer als Fernsehstar, steht einem zähnefletschenden Eisbären gegenüber, rettet eine verhaßte Kollegin aus dem Sambesi-Fluß, wird von einer norwegischen Jägerin verführt, die vorher das noch warme Hirschherz verspeist und steht einer Malerin Modell, die damit ihren Ruhm begründet, weil er die Klatschspalten füllt. Alles ist toll, hype und aufregend, polyglott, am Puls der Zeit, mit erotischen Details kräftig gewürzt.

Nur zwei Frauen sind anders, die kleine Nefertiti, die alles liest und weiß und ihn mit der Weisheit eines klugen Kindes aufklärt: "Auch die Phantasie ist ein Weg zum Wissen, sogar zu einem Wissen, das auf anderen Wegen nicht zu erreichen ist" - und seine Frau Margarete, die als Diplomatentochter die ganze Welt bereiste und ebenfalls von allem weiß, aber wenig darüber spricht. Am liebsten bäckt sie zur Entspannung herrliches Brot. Beide erinnern ihn daran, daß da mehr sein könnte als Erfolg, Eitelkeit und Ruhm. Beide sterben an der brutalen Wirklichkeit: Nefertiti wird von einem LKW überrollt, Margarete von rachsüchtigen Rechtsradikalen erschossen, die sich für eine ausländerfreundliche Dokumentation ihres berühmten Mannes rächen.

Neben vielen erzählerischen Details, die faszinieren - wie die wortwörtliche Wiederholung einzelner kleiner Details aus der Erinnerung des jungen Jonas, die wie ein Ornament in einem Teppich, wie ein Zwischenschnitt im Film, immer wieder auftauchen - hat der Roman Längen, die Spannung reicht nicht für über 600 Seiten. Daß man sich trotzdem bis zum Ende durchkämpft, um keine schöne Formulierung, kein nettes Detail zu versäumen, spricht für die Erzählkunst dieses Autors.

DER VERFÜHRER Roman von Jan Kjaerstad Übersetzung: Angelika Gundlach Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999 616 Seiten, geb., öS 364,

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