Unwahrscheinliches Alpenleben

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Ein Stück aus den Alpen, mundgerecht zubereitet von Robert Seethaler. Exakt 155 Seiten benötigt der heute in Berlin lebende österreichische Schriftsteller, um "Ein ganzes Leben" zu erzählen. Dieses Leben gehört einem Mann aus den Bergen und aus einer anderen Zeit. Es ist ein Februarmorgen des Jahres 1933, an dem wir die alleinige Hauptfigur des Buches, einen gewissen Andreas Egger, zum ersten Mal sehen.

Eingepasst ist die Figur gleich zu Beginn in eine jener dick aufgetragenen Szenen, von denen dieses Buch noch einige mehr zu bieten hat. Egger trägt auf seiner Buckelkraxn einen sterbenden Ziegenhirten ins Tal. Der Mann heißt Johannes Kalischka, wird aber im ganzen Tal nur der Hörnerhannes genannt.

Auf der Höhe der Geierkante, in knapp dreihundert Meter Luftlinie über dem Dorf, entspinnt sich zwischen den beiden Männern ein Gespräch. "Wo willst du liegen?, fragt der Hörnerhannes und bekommt darauf keine rechte Antwort. Einige Meter später springt das kleine Männchen seinem Träger von der Schulter und verschwindet in eiligem Tempo nach oben in den Schnee. Egger mit seinem Hinkebein, das überall einsinkt, vermag ihm nicht zu folgen. Am Ende des Buches, knapp 50 Jahre später, gibt der Gletscher die Leiche des Hörnerhannes frei. Gut konserviert wirkt sie wie ein Fenster in die Vergangenheit.

Von der Bühne zum Buch

Das ganze Buch ist ein Fenster in eine andere Welt. Mutmaßlich aber ist diese Welt dem Autor genauso fremd wie dem Leser. Robert Seethaler, soviel weiß man über ihn, ist 1966 in Wien geboren. Ein schweres Augenleiden zwang ihn zu mehreren Operationen, über Jahre hinweg musste der Bub die dicksten Brillen tragen. Die Schauspielerei, zu der er später kam, diente auch der Überwindung der Angst vor den anderen. Dort, wo ihn alle sehen konnten, nämlich im Licht der Bühne, vermutete der 196-cm-Mann für sich den sichersten Ort.

Seethaler hat auf Bühnen in Wien und Stuttgart gespielt. In der ZDF-Krimiserie "Ein starkes Team" gab er den Pathologen Dr. Kneissler. Ganz anders als der berühmte Kollege vom Tatort Münster zeigte er sich als solcher immer mit vollem Ernst bei der Sache. Zum Schreiben ist Seethaler relativ spät gekommen. Sein letztes Buch "Der Trafikant"(2012) war ein veritabler Publikumserfolg, der Inhalt: die letzten Tage Sigmund Freuds in Wien, eingepasst in eine locker und leicht erzählte Geschichte.

Ansätze zu einem lockeren Erzählton, der ein schweres Schicksal umspielt, findet man jetzt auch im neuen Buch des Autors. Anders als in der Großstadt bei jenem einen Lebensmoment von Sigmund Freud sind Seethaler bei Andreas Egger in den Bergen aber auch die klischeeträchtigsten Mittel recht. Das ganze Leben des Mannes breitet der Autor vor uns aus, aber dieses Modell-Leben aus den Alpen will nicht so recht lebendig werden. Da helfen alle Geierkanten nichts, über die sterbende Ziegenhirten geschleppt werden.

Andreas Egger kommt als Vierjähriger zu einem Bauern namens Kranzstocker ins Tal. Dieser malträtiert und quält ihn. Bei einer der vielen körperlichen Disziplinierungen bricht er dem Buben einen Fuß, der nie wieder gerade zusammenwächst. Einzig die "Ahnl" nimmt den Kleinen ernst und setzt sich mit ihm auseinander. Als eines Tages eine Liftgesellschaft beginnt, das Tal für den Tourismus auszubauen, wittert Egger seine Chance. Trotz seines Hinkebeins wird er bald zu einem der wertvollsten Arbeiter.

Leichen pflastern den Weg des Seilbahnbaus, daran lässt Seethaler keinen Zweifel. Eines Tages sprengt ein Holzspan einem Mann namens Gollerer an einer in Arbeit befindlichen Stütze einen Arm weg. Keiner der umstehenden Arbeiter weiß, was man mit dem abgetrennten Körperteil machen soll. Da erhebt sich der Schwerverwundete selbst aus seiner Bewusstlosigkeit und meint, dass man das blutige Ding doch am besten sofort an Ort und Stelle vergräbt. Auch dies wohl eher eine gut ausgedachte Filmszene als die Wirklichkeit der Berge.

Freilich muss in einem literarischen Werk nicht immer alles wahrscheinlich sein. Gerade die unwahrscheinlichsten Ereignisse machen oft die besten Bücher aus. Im Leben von Andreas Egger aber geht es schon unwahrscheinlich blöd zu. Da findet der Mann in Marie die einzige Frau seines Lebens und bringt sie auf seine unwahrscheinlich kärgliche Hütte, die völlig einsam oberhalb des Dorfes steht. Rumms geht da im Gebirge auch gleich eine Lawine los und begräbt die Idylle unter meterhohem, zementharten Schnee. Marie ist tot, aber Egger rappelt sich aus dem Desaster.

Nach dem Grauen wieder warmes Licht

Später dann der Einsatz an der Ostfront und die Kriegsgefangenschaft bei den Russen. Nach der Rückkehr verdingt sich Egger wieder als Hilfsarbeiter bei den Bauern, bis er eines Tages aus der Beobachtung der Touristen heraus eine Idee hat. Er schreibt ein Schild, auf dem er seine Dienste als Bergführer anbietet und stellt es auf den Dorfplatz. Die Sache funktioniert und der in die Jahre gekommene Mann ist an vielen Tagen ausgebucht.

Von Ferne her, im Bild einer Kalten Frau, von der der sterbende Ziegenhirte damals erzählt hat, ergreift den alten Mann ein befremdliches Gefühl. "Ein Schauder", so heißt es im Buch, "lief ihm über den Rücken. Jetzt auf einmal spürte er die Kälte. Aber es war nicht die Luft, die so kalt war. Die Kälte kam aus seinem Inneren. Sie saß tief in seinem Herzen und war das Entsetzen."

Am Ende ergeht es Andreas Egger in seinem unwahrscheinlichen Alpenleben genauso wie mehr als hundert Jahre zuvor Joseph Conrads Kapitän Kurtz bei seiner Fahrt in den tiefsten Kongo. Das Grauen fasst ihn an. Robert Seethaler freilich löst auch diesen Schrecken souverän kunsthandwerklich auf.

In Wahrheit ist es niemand anderer als Marie, die dem alten Mann in Gestalt der Kalten Frau begegnet. So richtig kalt ist diese Gestalt dann aber doch nicht, denn schon am nächsten Tag geht hinter den entferntesten Gebirgsketten wieder die Sonne auf und hüllt alles in ein warmes Licht. Wohl auch, um all diejenigen zu erfreuen, die nach einer wirklich behaglichen Lektüre suchen.

Ein ganzes Leben Roman von Robert Seethaler, Hanser Berlin 2014 160 Seiten, gebunden, € 18,40

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