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Digital In Arbeit

Der Arbeitstag des geistigen Arbeiters

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Wie lebt der spanische Beamte, der Angestellte in vorgerückter Stellung, der spanische Professor? Ein spanischer Publizist, Nicolds GonzUez Ruiz, sagte über „Die familiären Probleme des spanischen Mittelstandes“ auf der XI. Sozialen Woche in Barcelona:

„Die Mittelklasse, über die ich reden will, ist die mittlere der Mittelklasse. Jene, die nicht die Gefahren des leichterworbenen, nicht die Mühen des schwererworbenen und auch nicht die Bitternis des unmöglich zu erwerbenden Geldes kennt.

Der Familienvater fühlt sich sehr zufrieden, wenn er seine Probleme mit einem v i e r z e h ns t ü nd ig e n Arbeitstag lösen kann. Er ist irgend etwas: Professor dort oder Beamter hier, mit dem entsprechenden Gehalt, das die Grundlage seines Lebens zu sein scheint... und mit dem er die Miete und das Frühstück für sich und seine Familie bezahlt. Um das Mittagessen, das Abendbrot, Kleidung und Aiztrechnung zu bezahlen, bezieht er noch zwei Gehälter mehr: bis sieben Uhr nachmittag arbeitet er in einem anderen Büro, von 8 bis 10 Uhr abends gibt er Unterricht, und nach dem Abendessen bereitet eT bis ein Uhr nachts seine Angelegenheiten für den nächsten Tag vor."

Das ist das klassische Bild des Familienvaters aus dem spanischen Mittelstand. Der als soziale Errungenschaft auch in Spanien gepriesene Achtstundentag besteht für ihn ebensowenig wie für den Arbeiter, der leben will. Aber das Doppel- verdienertum ist nicht verboten, und die daraus gewonnenen binnanmen entgenen gewöhnlich der Steuer. Die hauptberufliche Grundlage ist die Festanstellung mit Kündigungsschutz, die daher ungeniert zum Ausruhen von den anderen Beschäftigungen benützt werden kann. Das führt nur dann zu moralischen Selbstvorwürfen, wenn dieser klassische Mittelständler dem Professorenstand angehört. Und in der Tat krankt das spanische Mittelschulwesen an der außerberuflichen Übermüdung seiner Lehrkörper, mit verheerenden Auswirkungen im Bildungsstand der jungen Generation, überflüssig zu sagen, daß ein harmonisches und geordnetes Familienleben in einer solchen Mittelstandsfamilie unmöglich ist. Wenn auch Gonzdlez Ruiz in seiner Schilderung dem Familienvater aus dem spanischen Mittelstand, den er nicht eigentlich mit Bedauern, sondern mit Liebe, Bewunderung und wohl auch mit einem bißchen Stolz zeichnet, nahelegt, er dürfe nie und unter keinen Umständen die gemeinsamen Mahlzeiten versäumen, um mit Frau und Kindern die täglichen kleinen Probleme durchzusprechen, so ist das doch eigentlich eine Euphemie, denn ein Vierzehnstundentag läßt gewöhnlich keine Zeit zu solchen familiären Intimitäten.

Eins freilich ist festzuhalten: Zum Unterschied von ähnlich gelagerten Fällen in „fortschrittlichen“ Ländern, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, arbeitet die Gattin dieses spanischen Mittelständlers unter keinen Umständen außerhalb ihres hauswirtschaftlichen Bereiches.

Günstiger als Professoren und Beamte stehen sich Arzte und Ingenieure in Spanien. Ein junger Kassenarzt ohne eigene Klinik und ohne Privatkundschaft wird sich freilich nur mühsam mit 2000 bis 3000 Peseten (1300 bis 2000 Schilling) im Monat durchbringen. Dasselbe widerfährt einem Ingenieur, der in einem Betrieb oder einer Sektion arbeitet, wo ihm keine Produktionsprämien sicher sind. Beide aber haben die Möglichkeit, der Ingenieur schneller als der Arzt ohne Klinik, durch Nebenverdienste ein Vielfaches ihres Festgehaltes zu verdienen, genau so wie der Bankbeamte, sei er Subdirektor mit 5000, Prokurist mit 2000 oder Buchhalter mit 1500 Peseten Monatsgehalt. Dank ihrer Fachbildung sind sie gefragte Kassenbuchführer in kleinen und mittleren Handelsbetrieben, wo sie am späten Nachmittag oder am Wochenende arbeiten. Der Subdirektor tut das allerdings nur, weil er für seine womöglich kinderreiche Familie ein zweites Dienstmädchen braucht und weil er wie auch sein Prokurist es für unter seiner Würde hält, auf Reisen nicht die erste Klasse zu benützen. Da ist auch noch die althergebrachte spanische Sitte der dreimonatigen Sommeraufenthalte für Frau und Kinder (der Familienvater hat höchstens 14 oder 20 Tage Urlaub). An dieser Sitte wird unbeirrt festgehalten; ohne sie könnte mancher Familienvater seinen Arbeitstag auf 10 Stunden beschränken.

Der spanische Mittelständler ist über-: haupt noch gewohnt, eine Reihe von Ansprüchen zu stellen, an die seine Standesgenossen in anderen Ländern nicht mehr zu denken wagen. Da ist zum Beispiel die in romanischen Ländern weitverbreitete Sitte des täglichen Kaffeehausbesuches; Frauen und Kinder gehen in Spanien sehr gut gekleidet, Kinder, auch mittelmäßig situierter Familien, fast prinzenhaft. Erst vor kurzem veröffentlichte die Wochenschrift „Ecclesia“ einen Hirtenbrief des Bischofs von Zaragoza gegen den unangebrachten Luxus in der Kleidung der Kinder bei der ersten hl. Kommunion und gegen die mit dem Charakter dieses Tages unvereinbaren Festlichkeiten. — Hingegen wird die Wohnkultur sehr stark vernachlässigt, und beim neu arrivierten gehobenen Mittelstand — die Schule und das Studium der Kinder. Dieser arrivierte, gehobene Mittelstand zeichnet sich, wie überall, durch eine Überschätzung der materiellen Güter des Lebens aus und durch, eine absolute Unzugänglichkeit für andere als seichteste kulturelle Bedürfnisse. In den Städten der nordspanischen Provinzen, in denen die intensive Industrialisierung vielen kleinen Handwerkern und Geschäftsleuten einen plötzlichen wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichte, sind in den letzten drei Jahren die luxuriösesten Lichtspielhäuser aus dem Boden geschossen; ihre Zahl wie auch die von sehr zweifelhaften Vergnügungsbetrieben hat sich verdoppelt und verdreifacht.

An dem Leben des „gehobenen Mittelstandes kann auch noch ein gewisser Teil des „mittleren" Mittelstandes teilnehmen. Das kleine Rentnertum ist in Spanien noch nicht in dem Maße ruiniert wie in Ländern, wo Realbesitz oder kleine Kapitalien durch Kriege und radikale Geldentwertungen restlos zerstört wurden. Die Frau des Bürovorstehers oder Stadtsekretärs, der mit 700 oder 1000 Schilling im Monat nicht aus noch ein wüßte, hat oft noch die Teilhaberaktien des Pakets, das der Großvater unter Kindern und Enkel verteilte, und sie werfen allmonatlich einen netten Betrag ab, deT oft bedeutend höher ist als das Einkommen des Mannes; dieser selbst tritt alle drei, sechs oder zwölf Monate die Reise in die Provinz an, um die Pachtzinsen einzukassieren von den Pächtern seiner Ländereien, auf denen Pflanzen gebaut werden,

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