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Die Frauenburg von Besanęon

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Die modernste Schule steht nicht, wie man erwarten dürfte, in Amerika, sondern in Frankreich, und gar nicht in Paris, sondern in Besanęon, der alten Provinzstadt im Osten Frankreichs.

Damit man die heitere Geschichte dieses Unternehmens zweier kühner und kluger Frauen richtig verstehen kann, muß ich vorausschicken, daß in Frankreich die Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten Internate sind. Die Kandidaten haben eine Aufnahmeprüfung abzulegen, die nur die Tüchtigsten bestehen.

Die Ausbildung ist kostenlos. Wohnung, Nahrung und alle sonstigen Bedürfnisse des Lebens und des Studiums werden vom Staat bestritten gegen die einzige Verpflichtung, nach Vollendung des Studiums wenigstens zehn Jahre lang im Staatsdienst zu bleiben.

Die Lehrerinnenbildungsanstalt von Be- sonęon war ehedem in einem grauen, unfreundlichen Gebäude untergebracht und verfügte über keinen Komfort. Nun hatte sich aber gerade diese Anstalt durch eine Reihe von unverheirateten Direktorinnen, die sich mit Leib und Seele der Ausbildung von Lehrerinnen widmeten, als Kulturstätte einen Namen gemacht. Am Ende des zweiten Weltkrieges fiel es der jetzigen Direktorin, einem zierlichen, liebenswürdigen Geschöpf, dem man Solche Energie nie zugetraut hätte, ein, die Stadträte anzugehen, um ihren „Töchtern“, wie sie ihre Zöglinge zu nennen pflegte, bessere Wohnbedingungen zu schaffen. Es handelte sich immerhin um zweihundert bis zweihundertfünfzig „Töchter“. Außerdem mußten die dazu gehörigen Volksschulklassen auch dort untergebracht werden. Der Gedanke an eine solche Zumutung nötigte dem Bürgermeister bloß ein Lächeln ab; die junge Direktorin, kräftig unterstützt von der Anstaltswirtschafterin, wies auf die Zitadelle hin, die während des Krieges von den deutschen Truppen besetzt gewesen war und jetzt leer stand. Diese Zitadelle liegt hoch oben über der Stadt und besteht aus vier riesigen Gebäuden aus dem siebzehnten Jahrhundert, die einen Ehrenhof umschließen. Sie sind von vollständig erhaltenen Wallmauern rings umgeben. Das Ganze bietet einen romantischen Anblick. Der Bürgermeister benahm sich ritterlich, aber er wußte auch, daß ein Kostenvoranschlag der städtischen Architekten für die Adaptierungsarbeiten die kühnen Unternehmerinnen wirksamer mundtot machen mußte als sein Nein.

Tatsächlich kam nach langen Debatten ein Kostenvoranschlag zustande, der die Ausführung mit fast zwei Milliarden Francs bezifferte. Die Leiterin schwieg dazu und unternahm in den Ferien eine Studienreise durch England, Schweden und Dänemark, um dort alle Internate, Colleges und Institute zu besuchen. Daraufhin kam sie mit ihren eigenen Plänen wieder zum Bürgermeister. Das, was die Frau vortrug, war so klug und kostensparend, daß die Stadtväter ihre Köpfe nochmals zusammensteckten, die Bauunternehmer nochmals zu sich riefen und einen neuen Voranschlag begehrten. Das Ergebnis war eine Einsparung von einer Milliarde dreihundert Millionen Francs. Mit siebenhundert Millionen Francs ließen sich die Pläne der Leiterin durchführen. Konnte man auch nicht gleich dem Stadtsäckel einen solchen Betrag abknöpfen, so überließ man die Zitadelle doch dem Lehrerinnenheim. Einen Teil der Bausumme verdiente sich die Anstalt selbst, indem sie auf Reisen ging und in ganz Frankreich Theatervorstellungen gab. Die Stücke, die Kostüme und die Tänze rührten von den Schülerinnen und den Professoren her und hatten durchschlagenden Erfolg. Nun ist die Schule seit fünf Jahren auf der Zitadelle im Betrieb.

Im letzten Sommer besuchte ich sie. Ich kann es nun verstehen, daß man sogar aus Amerika nach Besanęon pilgert, um dieses Wunderwerk weiblicher Klugheit und Energie zu besichtigen. Schon von außen macht der Bau einen ungewöhnlichen Eindruck. Die feudalen, stolzen Gebäude umschließen den ehemaligen Hof, der nun in einen Garten mit herrlichen Blumenanlagen im Stile von Versailles verwandelt ist. Trotz anfänglichen Protestes der Architekten blieben die alten Gewölbe erhalten und bilden nun zum Beispiel lauschige, kleine Speisezimmer, die durch offene Bögen miteinander verbunden sind. Keines dieser Speisezimmer hat mehr als drei, höchstens vier kleine Tische. In jedem Schlafzimmer sind zwei, höchstens drei Schülerinnen untergebracht. Die Zimmer sind dunkel getäfelt und mit einem Sims versehen, für Bücher und Kunstgegenstände.

Was soll man von den Lehrsälen erzählen? Ich würde den Neid mancher Studenten der Physik oder Chemie wachrufen, wenn ich von den mit den modernsten Anlagen und Apparaten ausgestatteten Laboratorien berichtete, die dem Professor erlauben, zugleich mit seiner ganzen Klasse zu experimentieren. Es gibt Zeichen- und Musiksäle, Turnsäle, Nähstuben, Schneiderateliers neben einer riesigen Lehrküche, in der den Kandidatinnen das sparsame Kochen mit Kohle, Gas und Elektrizität beigebracht wird. Denn draußen auf dem Lande muß die Lehrerin auch den Müttern mit Rat und Tat beistehen können. Das Essen, das die Kandidatinnen kochen, wird einmal oder zweimal in der Woche um einen geringen Betrag oder auch unentgeltlich A r- beiterinnen oder armen Frauen serviert. Wöchentlich einmal werden auch einfache, im Berufsleben stehende. Mädchen zum Tee geladen. Dabei wird musiziert, gespielt oder auch gearbeitet. So wird den Junglehrerinnen soziales Denken und Hilfsbereitschaft beigebracht. In der Lehrbibliothek ist ein großer Saal der Presse gewidmet.

Was die Lehrerinnenbildungsanstalt von Besanęon mit einem Schlag berühmt gemacht hat, ist aber noch etwas anderes: die Leiterin entschloß sich, zwölf der ärmsten Kinder, die der öffentlichen Fürsorge zur Last fielen, von ihrer Anstalt adoptieren zu lassen. Sie erbaute mit überschüssigem Baumaterial neben dem Eingangstor der Anstalt ein schmuckes Häuschen, ein richtiges Kinderheim mit eigener kleiner Küche, kleinen Badewannen, kleinen Betten, und brachte dort ihre Zöglinge unter. Dort werden sie nun von den Kandidatinnen gepflegt, unterrichtet und unterhalten, kurz und gut, zu anständigen Menschen erzogen. Wenn man bedenkt, daß es die Ärmsten sind, die da an ein wenig Licht kommen, Findelkinder, Waisen oder Kinder krimineller Eltern, so kann man sich nur freuen, und die tapfere Frau, die das Experiment wagte, aus tiefem Herzen bewundern.

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