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Gespenster am hellichten Tag

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Vor kurzem hatten sich zu Brüssel die diplomatischen Vertreter von mehr als fünfzig Ländern eingefunden, die Berner Konvention über den Schutz des Urheberrechtes zu revidieren. Auserlesene Fachmänner, berühmte Juristen, bedeutende schöpferische Menschen berieten als ein Parlament der freien Geistigkeit, die keine Grenzen kennt. Niemand dachte daran, ob der, dem er lauschte, aus einem faschistischen Staate kam oder aus einer Volksdemokratie, so sachlich und so wissenschaftlich durchdacht war Rede um Rede.

Da erhob sich ein noch jugendlicher Rechtsberater des Foreign Office und begründete mit der Weltgeltung Großbritanniens, mit der Gepflogenheit jüngster Jahre die Forderung, daß der Text des Übereinkommens, seit zweiundsechzig Jahren allen in französischer Sprache vertraut, nunmehr auch in englischer Sprache mit gleicher Gültigkeit abgefaßt werde. Dem Begehren gesellten sich die Dominions, so Kanada als Neuseeland, gesellten sich Pakistan und Hindustan zu, sogar die Delegierten Irlands. Ein Dolchstoß ins Herz der Franzosen! Feindliche Gewaltherrschaft hatte ihren Großstaat bis in die letzten Abschnitte des letzten Ringens der Stimme beraubt, der einst so mächtigen Stimme eines Clemenceau, eines PoincarA Fluch aller Friedenspolitik: Prestige stand gegen Prestige. In einer hinreißenden Rede trat Marcel P 1 a i s a n t für das bewährte, so überaus klare französische Vertragsinstrument ein. Nicht minder hitzig replizierten die Redner des Vereinigten Königreiches, bestrebt, im Sprachlichen eine Weltgeltung zu wahren, wo doch das Rieseln in den Mauern schon vor München vernehmbar war. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht." Als die Krone der Habsburger in den Staub rollte, die des Kaisers aller Reußen, der seinem englischen Vetter so ähnlich sah, die der Wettiner, der Hohen- zollern … mußte da nicht zwangsläufig der Tag aufdämmern, an dem auch das Haus Coburg-Windsor ganz still die Kaiserkrone Indiens niederlegte? Oh, diese mehrsprachigen Verträge, diese Traites plurilingues! Wohin ist der Covenant der Liga der Nationen? Wer legt das Potsdamer Abkommen nicht nach seiner Sprache und seinem Belieben aus? Ahnten die Redner und Gegenredner nicht, wie bitter jedes ihrer Argumente alle die anderen Ländervertreter in ihrem Nationalstolz traf? Right or wrong — my country!

Schon meldeten sich die anderen Berühmten zu Worte. Als käme er zum Tridentiner Konzil, trat der Vertreter Spaniens auf und forderte gleiches Recht für die Sprache Calderons und Lopes, die Sprache von neunzehn lateinamerikanischen Staaten. Portugal meldete für sich und Brasilien den gleichen Anspruch an, der Vertreter des Libanon für die arabische Sprache. Bei der statutarisch gebotenen Einstimmigkeit drohte das Veto von soviel Vertretern die Konferenz zum Scheitern zu bringen. Der kluge Anwalt Guislain, der den Vorsitz führte, beeilte sich, die Verhandlungen über diesen Streitgegenstand zu vertagen.

Der uralte Fluch des Turmbaus zu Babel war wieder aufgelebt, als zwei Tage später in einer sehr erregten Stimmung der Präsident Kuypers, selbst einer der höchsten Funktionäre Belgiens, die Leitung der Beratung übernahm. Wer mußte nicht an Fehden denken, die wie Blutrache fortwirkten, an Austreibungen von ganzen Völkerschaften, an das Hinmorden von Millionen? Die Sprache einer geistigen Großmacht, eines der neun ersten Staaten, die vor 62 Jahren das Übereinkommen unterzeichneten, nach dessen Hauptstadt Berlin die vorletzte der Revisionskonferenzen ihren Namen führte — sie besaß hier überhaupt keinen Anwalt. Binnen ihrer Grenzen war eine ganze Stadt der Bücherherstellung gewidmet. Zerstört und vernichtet liegt die Deutsche Bücherei, das Buchgewerbehaus, die großen Universitätsbibliotheken, in Schutt der Häuserblock, in dem das Wissen der Welt im Auszug Gemeingut aller wurde: der Verlag Brockhäus; verschwunden der Reclam-Verlag, der im abgelaufenen Jahrhundert dem deutschen Volk durch seine Zwölfpfennigbändchen das Wissen und die Literatur der ganzen Welt erschlossen hatte. Die Stadt der Lehrkanzel Immanuel Kants, sie trägt einen russischen Namen; Breslau, ein Eckpfeiler des deutschen Katholizismus, ist polnisch. Hängt nicht in den Schulen der Goethe-Stadt Weimar, in Jena, wo Schiller seine Vorlesungen hielt, das Bild des slawischen Siegers? Nur ein britischer Major saß auf der Brüsseler Konferenz als stummer Beobachter für Deutschlands Bi-Zone… Die Schweizer, sonst seit dem Weltringen, allen Widerständen zum Trotz, Anwälte einer ihrer Landessprachen, in der Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Mayer und Spitteier höchste Vollendung erreicht hatten, hier hielten sie sich an die herkömmliche Gepflogen-

heit, daß nach Artikel 21 des Übereinkommens die Geschäftssprache des Berner Büros die französische ist.

Jeder Sprache ihr Recht! Gespenster vergangener Jahrzehnte tauchten auf. Geisterten sie herüber aus dem Bombenschutt des österreichischen Reichsrates? Schweigen herrscht auf ihren Bänken, wortlos lauschen sie dem Zweikampf der beiden unnachgiebigen Großmächte.

Den Belgiern wird Angst, daß der gewaltige Aufwand für diese Konferenz vertan, das in langwierigen Wechselreden Erreichte vergeblich, die Vorarbeit von zwanzig Jahren zwecklos sein sollen; ihrer einer beantragt, vielleicht nur die neugefaßten Artikel des Vertrages in beiden Sprachen abzufassen. Kaum, daß man ihn anhört.

Aber vielleicht trägt ein 1 etzter Vermittlungsvorschlag doch bei, die Konferenz, die Konvention zu retten. Er geht von dem österreichischen Delegierten aus. Es ist Zeit, zu erinnern, wo die Macht und die ausschlaggebende Geltung heute daheim sind. Der größte Teil der Kulturstaaten aller vier Erdteile hat hier Sitz und Stimme, dennoch fehlen ihrer zwei: die Vereinigten Staaten von Nordamerika und die Union der Sozialistischen S o w jet rep ub 1 iken, die zwei Gewaltigsten. Jene mißachteten eben die im Berner Übereinkommen gewährleisteten Urheberrechte und verboten selbst die Einfuhr der deutschen Übersetzungen britischer und amerikanischer Schriftsteller in die westliche Zone Deutschlands; diese aber, als die Frage des Kulturaustausches erörtert wurde, fragten durch ihren Wortführer abschätzig: „Was ist das, die Berner Konvention?“ Tiefe Stille herrscht bei der Mahnung,, den französischen Text mit der Ergänzung nach dem belgischen Vorschlag beizubehalten, aber in der englisch und französisch abzufassenden Präambel z u e r- klären, man habe die bisherige Vertragssprache beibehalten, bis das Berner Übereinkommen Weltgeltung erlange, dann werde entschieden, in welchen Sprachen allen es abzufassen sei.

Noch schwieg alles, als ein Delegierter einer Volksdemokratie flüsterte: „Sie waren der erste, der das Wort Rußland aussprach." Aber der Vorsitzende Kuypers hatte sehr hellhörig das Wesentliche aufgegriffen. Als hielte er es für seine Pflicht, den Rechten der slawischen Welt Gehör zu .schaffen, .wandte er sich an den Vertreter eines Volkes, dessen Schrifttum Weltruf genießt. Was für Erinnerungen wurden wach!

„Zu Warschau schwuren Tausend auf den

Knien:

Kein Schuß im heil’gen Kampfe sei getan!“

Und nun antwortete der Sprecher Polens auf die Frage, in welcher Sprache der Text in dem Falle, den der Vorredner angedeutet hatte, abgefaßt werden müßte: „Russisch."

Die’ Sprachenfrage wurde hierauf rasch noch einmal einem Sonderausschuß an vertraut, und nun kam ein Kompromiß zustande. Frankreich gestand den englischen Text, Großbritannien die ausschlaggebende Bedeutung des französischen in Zweifelsfällen zu. Von nichts anderem ging mehr die Rede, und der britische Delegierte Sir Harold Saunders überreichte dem großen Gegenredner . Marcel Plaisant als Friedenszeichen eine rote Rose.

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