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Gewaltloser Umsturz

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„Es ist nicht gut, im Dunkeln zu wandern”, sagte Keralas Gouverneur bei der letzten großen Demonstration vor dem Sturz der kommunistischen Regierung. Er hatte recht. 3 5 Prozent der Bevölkerung, die den Kommunisten 1957 zur Macht verhalfen, .wanderten im Dunkeln. Zum erstenmal regierten die Kommunisten in einem indischen Staat. Keralas Bevölkerung lernte den Kommunismus kennen und zog die Konsequenzen.

Am 31. Juli hat der indische Staatspräsident Prassad die KP-Regierung Keralas ihres Amtes enthoben mit der Begründung, sie sei unfähig, verfassungsgemäß zu regieren. Wie kam es dazu?

Die Regierung löste ihre Versprechen nicht ein, war unfähig, die Ernährungs- und Arbeitsprobleme zu lösen, suchte aber mit allen Mitteln, ihren Einfluß zu sichern. Den letzten Anstoß zum unblutigen Aufstand gab das Schulgesetz des Kultusministers Dr. Josef Mundassery. Dieses Gesetz des abgefallenen Katholiken sollte die Privatschulen, den Stolz Keralas, vernichten und alle Schulen dem kommunistischen Staat ausliefern. Die Kathöliken wurden am härtesten getroffen. Die Bischöfe protestierten vergeblich. Das Volk trat auf ihre Seite. Hindus, Mohammedaner und Christen traten geschlossen gegen die KP-Regierung auf.

Revolution im Stile Gandhis, ohne Gewalt, ohne Kampf, nur mit Geduld. Zähigkeit ohnegleichen und echt indische Leidensfähigkeit führten zum Erfolg.

Der folgende Augenzeugenbericht aus Trivandrum, der Hauptstadt Keralas, schildert die letzte große Demonstration vor dem Rücktritt der Regierung.

Das Gemetzel in Kerala lockte die Vertreter der Weltpresse. Bei der letzten großen Demonstration fehlten sie — leider. Sie hätten ein Volk in der Revolution sehen können, aber ein Volk, das sich völlig beherrschte.

Gegen ein Uhr versammelten sich etwa zweitausend Parteiführer der verschiedenen Parteien am Mahadma-Gandhi-Kolleg. In einem Memorandum wurde der Gouverneur aufgefordert, wegen der Vergehen des KP-Regimes und des deutlichen Volkswillens die Regierung zu entlassen. Inzwischen vereinigten sich die Demonstrationszüge aus den drei Fischerdörfern, die Tote zu beklagen gehabt hatten, am gleichen Platz. Für jeden Ermordeten brannte eine Fackel. Drei Menschen hatte die KP-Polizei in Vettukad niedergeschossen, zwei in Tiruvella, drei in Veriathura. Die Züge schlossen sich den sieben Fackeln aus Ankamali an, die schon halb Kerala durchwandert hatten.

Punkt fünf Uhr verließen fünftausend ausgewählt starke Männer mit Fahnen das Kolleg. Sie hatten nur die Aufgabe, die Straße frei zu halten für die folgende Prozession. Völlig gewaltlos leisteten sie vorzügliche Arbeit.

Ein Schauer überlief die Menge. Frauen in langen weißen Gewändern mit einer schwarzen Stola um die Schultern trugen die fünfzehn Fackeln. Zwei Witwen der niedergeschossenen Männer waren darunter. An vielen Orten brannten kleine Oellampen, um die „Lebenslichter”, wie das Volk die Fackeln nennt, zu begrüßen. Den Fackeln folgte die Prozession. In Dreierreihen kamen die Männer. Zehntausende von Frauen schlossen sich an. Die Beteiligung der Frauen ist für Indien ungewöhnlich. Die ganze Bevölkerung war auf den Beinen. Angesehene Hindudamen aus vornehmen Familien gingen neben ärmsten katholischen Fischerfrauen und mohammedanischen Verkäuferinnen. Endlose Reihen von Menschen und Fahnen folgten. Man sah die schwarzen Fahnen des Protests, die rotweißgrüne indische Flagge, die Fahnen der verschiedenen Parteien, der gegenwärtigen Freiheitsbewegung, der Studenten. Volle fünf Stunden brauchte der Zug für den sieben Kilometer langen Weg vom Kolleg zum Maidanplatz. Immer noch schlossen sich neue Menschenmassen dem Zuge an. Dichtgedrängt stand die Menge am Weg. Alle Fenster der Häuser waren besetzt, die flachen Dächer überfüllt. Etwa fünfhundert- bis sechshunderttausend Menschen waren zusammengekommen. Die Hauptstadt Trivandrum zählt nur hundertfünfzigtausend Einwohner. Die Verbindung zum Norden ist schwierig. Es goß in Strömen. Die Regierung erschwerte die Teilnahme an der Kundgebung. Trotz allem strömte das Volk zusammen. Es gab keine Propaganda. Fünfzehn brennende Fackeln rissen die Menschen mit. Fünfzehn brennende Fackeln waren das Symbol für die Opfer der Freiheit, waren Zeichen des Terrors, den es zu besiegen galt.

Etwa alle hundert Meter war in die Prozession eine Gruppe eingeschaltet, die den Slogan kannte, einen fließenden Reim in der Malayalam- sprache mit dem Thema der Demonstration:

Nickt weit von hier am Strande unseres Meeres, als ihr Gatte abwesend war. wurde eine stillende Mutter getötet.

Ihr Name war Flory.

Die Regierung ist schuldig ,Wir werden sie zur Verantwortung, ziehen, Das schwören wir bei diesen Fackeln.

All das Grauenhafte der letzten Wochen konzentrierte sich in diesem einen Fall, der die Menschen am meisten empörte: Eine junge Frau, Mutter von fünf kleinen Kindern, die ihrem Kleinsten die Brust gab, war von den Kommunisten erbarmungslos niedergemacht worden. Stundenlang hallte der Slogan durch die Stadt. Jeder in Trivandrum kennt die Verse auswendig.

Am Palast des Gouverneurs staute sich der Zug. Die Parteiführer begrüßten den Gouverneur. Die Fackeln folgten. Das Memorandum wurde überreicht. Die Fackeln kehrten zurück. Der Gouverneur weigerte sich, vor dem Volk zu erscheinen: „Es ist nicht gut, im Dunkeln zu wandern.” Die Forderung der gequälten Menschen konnte er nicht überhören. Fast fünf Stunden lang schrien ihm die Hunderttausende ihr „dismiss” zu: Entlaß die Regierung! Eine ungeheure Bewegung erfaßte die Menge. Viele trugen noch die Striemen und Wunden der Polizeiknüppel. Viele hatten Gefängnishaft hinter- sich. Man dachte an das- Gemetzel der Polizei, an die Morde an Studenten. All die Schrecken der beiden letzten Jahre wurden wach. In diesen Stunden wuchs der Mut und die Entschlossenheit, durchzuhalten, was immer es kosten würde.

Man hätte die Macht an sich reißen können in diesen Tagen. Aber keiner dachte daran. Kein einziger Zwischenfall ereignete sich. Die Leute waren so folgsam wie möglich. Aber die Entschlossenheit blieb Die Menge strömte zum Paz-vangadiplatz. Alles war überfüllt. Ein Lautsprecher klang auf. Es wurde still.

Schon seit Beginn der Kundgebung hatte es unaufhörlich geregnet. Die Menschen froren an diesem naßkalten Abend. Es war schon nach zehn Uhr. Jetzt forderte man die Leute auf ‘ich zu setzen — mit den nassen Kleidern auf den nassen Boden. Das ist selbst für indische Verhältnisse viel verlangt. Aber man war bereit, Opfer zu bringen für die Befreiung Keralas. Die ganze Menge setzte sich. Mir schien dies der eindrucksvollste Augenblick der ganzen Kundgebung zu sein. Die Hunderttausende kauerten auf dem Boden, hungrig, vor Kälte zitternd, stundenlang. Es wurde Malayanpoesie vor- geträgen. in der an all die Ereignisse der letzten zwei Jahre erinnert wurde. Mannath Pradma- nabhan, der greise Hinduführer. hielt eine zündende Rede. Der Kongreßleiter in der Assembly, P. T. Chako, sprach. Malavalis reden und hören endlos. Erst gegen zwei Uhr gingen die Leute nach Hause. Als Abschluß wurden die Fackeln am Märtyrerdenkmal in Palayan niedergelegt.

Während der Kundgebung tagten die Leiter der KP in Trivandrum. Zwei Tage später meldeten sie in einem Kommunique, der Widerstand in Kerala beruhe auf Massenhysterie und werde mit terroristischer Gewalt durchgesetzt. Wer Kerala in diesen Wochen gesehen hat, kann den einfachen Leuten seine Bewunderung nicht versagen. Sie protestierten, weil sie es für ihre Pflicht hielten. Sie wollten die Regierung stürzen. Gewiß, daran ist kein Zweifel. Aber Gewalt wollten sie nicht. Diese gewaltlose Methode im Stile Gąndhis kostete entsetzliche Mühe. Denn sie ist kein Sport, sondern blutiger Ernst. Eine solche zähe Entschlossenheit verdient die Bewunderung der Welt.

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