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Hannibal vor dem „Tor des Ostens“

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Die „Furche" erhält aus Hongkong den nachfolgenden Brief, dem das Auftauchen kommunistischer Truppen vor dem Festlandgebiet der Stadt und die jüngste Entwicklung im gesamtchinesischen Raum besondere Aktualität verleihen.

Vier Jahre nach der Invasion durch die Japaner, im September 1945, kehrte England in seine Kronkolonie Hongkong zurück. Aber der Glanz und Reichtum der Handelsstadt im Süden Chinas war dahin und die Zahl ihrer Einwohner auf einen geringen Bruchteil herabgesunken. Durch den Krieg war Hongkong eine tote Stadt, eine verlassene Insel geworden. Niemand gab ihr eine Chance für die Zukunft.

Inzwischen sind vier Jahre vergangen, in denen das Unwahrscheinliche Wirklichkeit geworden ist. Hongkong, die Geisterstadt von 1945, war nur scheintot. Heute lebt, atmet und arbeitet sie wieder. Die Geschäfte belebten sich von Jahr zu Jahr, die Bevölkerung wuchs von Monat zu Monat. Die Wiederaufnahme der Schiffahrtslinien zu auswärtigen Versorgungsbasen und Märkten gaben zusammen mit der Initiative der Militärregierung der einheimischen Wirtschaft großen Auftrieb. Neues Kapital strömte in die Kassen der Banken und Unternehmen. Geschäfts- und Privathäuser wuchsen aus dem Boden, und in den Lagerhäusern stapelten sich wieder die Waren zu Bergen. Die Import- und Exportziffern übertrafen bereits die der Vorkriegsjahre.

Es’ist schwer, die wirkliche Zahl und Zusammensetzung der Bevölkerung Hongkongs in Erfahrung zu bringen. Ungefähr 1,800.000 Einwohner meldet die offizielle Statistik. Von diesen sind die überwiegende Mehrheit Chinesen. Nur 16.000, das ist weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung, entfallen auf nicht weniger als 45 Nationen. Während des letzten Jahres passierten zwei Millionen Menschen die Kronkolonie, sie kamen zum Teil auf den 6400 Schiffen, die in den Hafen einliefen, zum Teil auf den 7147 Flugzeugen, die auf dem Militärflugplatz landeten.

Hongkong ist nicht’ nur der große Um- schlagplatz von Waren und Menschen„ es ist auch eine Großstadt mit allen Sorgen und Problemen der Nachkriegszeit. Dem steilen Wiederanstieg folgte eine ebensolche und noch andauernde Steigerung der Lebenskosten. Die chinesischen Flüchtlinge, die die Stadt überschwemmen, belegen nicht nur den letzten verfügbaren Wohnungsraum, sie müssen sich, da dieser nicht ausreicht, auf ihre eigene Art notdürftig behelfen: mehr ‘als 100.000 roh zusammengezimmerte Bretterbuden geben ihnen Obdach. Überall, auf jedem unverbauten Quadratmeter, sind sie zu finden, und dort, wo kein Platz frei ist, trifft man diese Behelfsunterkünfte sogar als Aufbau auf den Dächern bestehender Häuser.

Unter diesen Umständen kämpft das kulturelle Leben, vor allem das Schulwesen, mit großen Schwierigkeiten. In Hongkong gibt es keine Schulpflicht. Das Erziehungswesen liegt in der Hand der Regierung, von Mis- sionsgesellschaften und Privatpersonen. Alle Schulen sind aber verpflichtet, Verbindung mit dem Erziehungsdirektor zu halten und Angaben über die Zusammensetzung des Lehrkörpers, die Zahl der Schüler und den Unterrichtsort zu machen. Zur Zeit besuchen in der Stadt 85.000 Kinder Elementarschulen, während die Mittelschulen 21.000 Schüler unterrichten. Zehn der katholischen Schulen werden nach dem sogenannten „Grant-Syste m" geführt, nach demdie Regierung für die Differenz zwischen den Ausgaben und Einkünften der Schulen aufkommt. Trotz den vereinten Bemühungen können die gegenwärtigen Schulen aber nur ungefähr die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder aufnehmen. Die 1911 gegründete Universität von Hongkong war während der japanischen Besetzung geschlossen. Nach der Wiedereröffnung der medizinischen und philosophischen Fakultät sowie einer eigenen technischen Abteilung für Bauwesen besuchen 516 Studenten die Vorlesungen.

Durch lange Zeit haben die Anhänger Mao- Tse-Tungs in, Hongkong, dem Sammelpunkt der chinesischen Flüchtlinge der letzten hundert Jahre, ein Asyl gefunden, in dem sie ungehindert eine große politische Aktivität entfalten konnten. Sie haben dort unter den Augen der toleranten britischen Behörden sogar ein Propagandazentrum aufgebaut, dessen Wirksamkeit auf den Süden des chinesischen Raumes gerichtet war. Zwei chinesisch geschriebene kommunistische Tageszeitungen, ein gleichgerichtetes Wochenblatt in englischer Sprache, ein chinesischer Verlag, der bereits mehr als hundert Übersetzungen russischer Werke veröffentlicht hat, wurden dort von ihnen aufgezogen. Neben ihnen entfalten — ein seltsames Idyll — aber auch alle anderen chinesischen Parteien, einschließlich des Kuoming- tang, eine rege politische Tätigkeit.

Nun ist an der Grenze der britischen Kronkolonie die kommunistische Flagge hochgezogen: Truppen Mao-Tse-Tungs haben die nahegelegene Stadt Schau-Tau- Kok besetzt. Die britischen Militärbehörden haben, durch die Ereignisse des Jahres 1941 gewarnt, diesmal umfassende Vorkehrungen getroffen. Mehrere Truppendivisionen, unter ihnen schottische Elitetruppen und indische Gurkhas, stehen am „Tor des Ostens’ Wache. Auf der Reede liegt eine stattliche Eskader, geführt von einem Flugzeugträger. Während unzählige Dschunken und Sampans täglich neue Flüchtlinge aus den vom Kriege bedrohten Gebieten in die Stadt bringen, ist England entschlossen, diesen letzten großen europäischen Stützpunkt auf chinesischem Boden, den Hauptumschlagplatz seines Ostasienplatzes, wenn es sein muß, zu halten. Denn vom Schicksal dieser Stadt hängen wichtige Entscheidungen im ganzen asiatischen Raume ab.

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