6601122-1953_39_09.jpg
Digital In Arbeit

Segen aus dem Bergmannsdorf

Werbung
Werbung
Werbung

Die sattsam bekannte Wohnungsnot der Nachkriegszeit machte sich auch im Saarland sehr hart fühlbar. Da hat nun ein großzügiges Wohnbauwerk wirksam eingegriffen und bedeutende Erleichterung gebracht.

Den schöpferischen Anstoß zu dem Wagnis gab der katholische Pfarrer Peter T h e i s in Hühnerfeld. Seine Pfarre ist ein ausgesprochenes Bergmannsdorf im Zentrum des Saarlandes. Die aufschnellende Industrialisierung mit der rasch ansteigenden Bevölkerung hatte schon in Friedenszeiten zu einem Wohnungsproblem geführt, das schwer zu meistern war. Nun kamen beide Kriege mit jahrelangen Stockungen im Wohnbau und den Zerstörungen dazu und machten aus der Wohnungsfrage die Wohnungsnot.

Da trat Pfarrer Theis vor seine Leute und gab ihnen die Parole: Nicht klagen, handeln! Am kräftigsten und an allen entscheidenden Punkten handelte er selbst. Er beschaffte durch seine Bemühungen bei der Bergwerksund Forstverwaltung den Baugrund, erschloß die Wege zu BauJarlehen mit billigem Zinsfuß und setzte insbesondere die persönliche Arbeitskraft und -Willigkeit seiner Bergleute ein. Zu diesem Zwecke gründete er den Ketteler-Verein. Dieser setzte sich auf der Grundlage der durch den Namen Ketteier gekennzeichneten christlichen Sozialpolitik das praktische Ziel, seinen Mitgliedern in christlicher Gemeinschaftsarbeit zu einem, Eigenheim zu verhelfen. Und zwar gerade für die kleinen Leute, die aus eigener Kraft sich nicht hätten helfen können. Für sie sollten familiengerechte Eigenheime erstehen, die dem natürlichen Wachstum der Familie keine unnatürlichen Schranken ziehen und auch für die folgenden Generationen ebenso freundliche Heimstätten bleiben sollten wie für die Erbauer. Nicht die Befriedigung des

augenblicklich dringenden Baubedürfnisses wurde als letztes Ziel erstrebt, sondern d i e Rettung der Familie aus den durch die Wohnungsnot heraufbeschworenen Gefahren.

Der erste sichtbare Erfolg war dem Ketteler-Verein Hühnerfeld beschieden, als er am 1. Adventsonntag 1948 den Grundstein zum ersten Ketteler-Haus legen durfte. Im Laufe des Jahres 1949 wuchsen 18 schöne Arbeiterhäuser in Hühnerfeld empor. Das Beispiel zündete. Ende 1949 gab es bereits Ketteier-Vereine in 35 Pfarrgemeinden, die im gleichen Jahre 1949, wie ein Huldigungsschreiben an den Heiligen Vater dartut, „mit Gottes Hilfe und in brüderlicher Liebe“ zusammen 97 Arbeiterhäuser erstellten.

Die Organisation der Ketteier-Vereine erfolgte auf örtlicher Grundlage. Den Satzungen gemäß kann ohne Rücksicht auf Religions- und Parteibekenn t-n i s jeder Unbescholtene und Gutbeleumundete Mitglied werden, falls er sich durch seine Unterschrift zu den Zielen des Vereines bekennt. Als erster Vorsitzender fungiert gewöhnlich der katholische Pfarrer, dem ein zweiter Vorsitzender und ein mehrgliedriger Beirat zur Seite stehen. Alle Vorstandsposten sind ehrenamtlieh und unbesoldet. Die Mitglieder kommen auf ihren monatlichen Versammlungen ausgiebig zu Wort. Im Juli 1950 schlössen sich alle Ketteier-Vereine zu einer Dachorganisation zusammen; so gewann man mehr Geschlossenheit in der Vertretung vor den Behörden sowie Verbilligung der Materialbeschaffung.

Die Arbeitsweise ist in den Satzungen wie folgt skizziert: Jedes Mitglied zahlt einen monatlichen Beitrag, dessen Höhe entsprechend der Leistungsfähigkeit des Mitgliedes und der Art des Bauvorhabens vom Vorstand festgesetzt wird. Der Beitrag ist eine Baueinlage und wird gutgeschrieben. Jedes Mitglied hat außerdem soviele Arbeitsstunden auf der Baustelle oder sonstwie für den Verein zu leisten, sei es selbst oder durch einen vom Vorstand anerkannten Vertreter, wie es der Vorstand entsprechend den Bauvorhaben des einzelnen Mitgliedes errechnet. Die geleisteten Arbeitstunden werden im Mitgliedsbuch quittiert. Die Zuteilung der gebauten Häuser an die Mitglieder vollzieht sich nach einem Punktesystem, wobei die Geldeinlage, die Arbeitsleistung und die soziale Dringlichkeit des Bauvorhabens mit festen Punkten bewertet werden. Die Einschätzung der Arbeitsleistung und der sozialen Dringlichkeit ist oft heikel und wechselnd nach den örtlichen Verhältnissen. Daher kann nicht überall die gleiche Skala angewendet werden. Ein günstiger Baugrund z. B. erfordert weniger Erdaushub und deshalb weniger Arbeit als ein ungünstiges Gelände. Die soziale Punktezahl wird — wiederum nicht mechanisch — dadurch bestimmt, daß man die Kopfzahl der Familie teilt durch die Anzahl der bisherigen Notwohnungsräume: eine zehn-köpfige Familie z. B. bewohnt zwei Räume; also 10:2 = 5 soziale Punkte. Diese letzteren

Punkte wurden an Hand späterer Erfahrungen verdreifacht oder verfünffacht.

Nach Zuweisung eines Hauses an ein Mitglied bleibt das Haus Eigentum des Vereins, bis die Forderungen des Vereins an Arbeitsstunden und Geldstundcn restlos erfüllt sind. Ist dies geschehen, so muß der Verein dem Mitglied das Haus sofort grundbücherlich übereignen.

Auf diese Weise stellt sich der Preis eines Familienwohnhauses innähernd 50 Prozent billiger, als wenn der Bauwerber die ganze Arbeit durch einen Bauunternehmer hätte ausführen lassen.

Die Schwierigkeiten der Ketteler-Vereine türmten sich oft bergehoch. Im Anfang war viel Mißtrauen zu überwinden. Gewerbliche Baufirmen und ihre Handwerker fürchteten die Konkurrenz der außerzünftigen Ketteier-Leute, die möglichst alle Arbeiten in Selbsthilfe leisten wollten. Dazu traten nicht selten bürokratische Versteifungen auf überalterte Gesetzesparagraphen, mangelndes Solidaritätsgefühl, antikirchliche Komplexe, manchmal auch unverständliche Zurückhaltung solcher Stellen, die dem großen Anliegen mit Herz und Hand hätten freigebig entgegenkommen sollen. Sehr verwickelt gestaltete sich die Endabrechnung durch die fortschreitende Preissteigerung und die Geldentwertung.

Auf der anderen Seite fehlte es nicht an Lichtblicken. Der Arbeitseifer der Ketteler-Lcute, die neben ihrer Schicht jede freie

Stunde der Baustelle schenkten, die eines nach dem anderen fertiggestellten Häuser, Ermunterungen des Bischofs und sogar von Rom, wirkten immer wieder anfeuernd. Die Baufirmen aller Art erlebten in allen Sparten einen starken Aufschwung, so daß der gelernte Bauarbeiter trotz aller Ketteler-Arbeit ein Mangelberuf blieb. Im Jahre 1949 trat eine Gruppe des Internationalen Hilfsdienstes zu freiwilliger Hilfeleistung an, die gerne angenommen wurde. Eine Helferin aus Schottland äußerte sich: „Im Kriege hat man gegen mich einen Sieg errungen, man hat meinen Bräutigam getötet und meine Lebenshoffnung zerstört. Ich will einen größeren Sieg erringen. Ich will meine Feinde durch meine Arbeit, die ich leiste, zu Freunden machen.“ Auch Mitglieder katholischer Jugendgruppen und einzelne rüstige Männer, die keinen eigenen Bau im Sinne hatten, stellten sich freiwillig zur Verfügung. Sehr feinfühlig handelte eine Firma, die ungenannt bleiben will: Einer ihrer Arbeiter, Mitglied des Ketteier-Vereines, verunglückte tödlich. Der Arbeitgeber machte der Witwe den Vorschlag, im Ketteier-Verein zu bleiben, die Firma werde für den monatlichen Beitrag und für kameradschaftliche Arbeitsleistung sorgen.

Der beglückende Erfolg des Unternehmens ist großenteils schon greifbar und für den Rest mit Sicherheit zu erwarten. Die Gesamtzahl der Ketteler-Vereine betrug (nach einer

Broschüre von Kaplan Dr. Spang, Saarbrücken 1953) anfangs 1953 im ganzen 58 mit 2060 Mitgliedern; dazu kommt noch eine angeschlossene Siedlergemeinschaft mit 170 Mitgliedern. Von den 58 Ketteier-Vereinen haben fünf ihr Bauprogramm bis Ende 1952 bereits restlos durchgeführt. Weitere 20 Vereine werden sicher 1953, und wiederum 20 Vereine 1954 ihr Programm abschließen können. Ende 1954 dürfte aller Voraussicht nach das Werk praktisch vollendet sein. Fertiggestellt wurden bis Ende 1952 insgesamt 1311 Häuser; das ergibt rund 2500 Familienwohnungen. Dazu kommen 166 im Bau befindliche und 656 fest geplante Häuser. Diese letzteren sind nur ein knappes Drittel der bereits vorhandenen Ketteler-Bauten. Für diese noch zu erstellenden Häuser sind bereits 192 Millionen Franken geleistet — zirka 12 Millionen Schilling — an Geldeinlagen und 1,4 Millionen Arbeitsstunden, die den früheren Häusern gewidmet wurden und den späteren Bauten rückerstattet werden müssen.

Alles in allem: ein dankenswertes Werk eines schlichten Arbeiterpriesters und seiner getreuen Gefolgschaft. Es war ihm nicht vergönnt, den vollen Erfolg mit eigenen Augen zu sehen, da ein plötzlicher Tod am 28. Mai 1951 ihn mitten aus seinem Schaffen abrief. Sein Andenken wird im Saarland und überall, wo man Kunde davon erhält, gesegnet bleiben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung