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Tiranas „Sündenregister“

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Sie hätten die vom 20. Parteikongreß im Jahre 1956 festgelegten Richtlinien bekämpft; sie hätten den Personenkult weiter betrieben; sie hätten versucht, die sowjetische Partei zur Wiederaufnahme stalinistischer Praktiken zu bringen; die Beziehungen zur sowjetischen Partei verschlechtert zu haben; sich von der allgemein gültigen Parteilinie entfernt und dadurch die Einheit der Partei gefährdet zu haben.

Mit originellen und besonders heftigen Ausfällen gegen Tirana haben sich Ulbricht, Breschnjew, Suslow, Kosigyn und Mikojan ausgezeichnet. Die originellsten Vorwürfe stammen von Mikojan:

Albanischen Studenten, die früher in Rußland studierten und während der Ferien heimgefahren waren, sei die Rückkehr nach der Sowjetunion nicht mehr gestattet worden. Viele von ihnen, gleich den aus den sowjetischen Marineschulen heimbefohlenen albaniwurde die chinesische und albanische Berichterstattung betreffend den „historischen Parteikongreß“ auf ein Minimum beschränkt.

Hodscha sorgte nach bewährter bolschewistischer Taktik für eine inländische Rückendeckung, mdem er eine Flut von Protesttelegrammen, in denen das Mißfallen über Chruschtschows Angriff und das volle Einverständnis mit dem Standpunkt der albanischen Partei zum Ausdruck gelangen mußte, bestellte.

Auf der anderen Seite haben Chruschtschows Propagandisten, sowohl Sowjetpolitiker als auch Satellitengrößen, die Sündenregister der albanischen Parteiführung präzisiert: sehen Matrosen, schmachten in Gefängnissen.

Während „bourgoise Zeitungen“ da sowjetische Parteiprogramm im vollen Wortlaut gedruckt haben, erschien in Albanien nur eine verstümmelte Wiedergabe.

Die „Albaner“ haben die internationale Position verlassen und ge-len „den Weg des Nationalismus“ ... „Das Beispiel Jugoslawiens zeige deutlich, wohin diese Sünde führe.“ Mobilmachung für alle Fälle

Die albanische Volksarmee, deren Gesamtstärke zirka zwei Divisionen entspricht, erhöhte ihre Verteidigungsbereitschaft. Der Verteidigungsminister, Beqir Balluku, erließ einen Tagesbefehl, welcher anläßlich des „Tages der Artillerie“ am 22. Oktober als ein kriegerischer Aufruf veröffentlicht wurde. General Balluku wandte sich an alle Soldaten, „die militärische Disziplin und revolutionäre Wachsamkeit zu stärken, um die Verteidigungsbereitschaft unseres sozialistischen Staates zu erhöhen“.

Albanische Marinekadetten haben schon Mitte Juni dieses Jahres die Parole ausgegeben: „Kein fremdes Schiff soll unsere Gewässer verletzen.“ Dieser hochtrabende, doch fromme Wunsch wurde in der Form eines Briefes, der an Hodscha gerichtet war, von den Mitgliedern der Kadettenschule der Marine und der kommunistisch gelenkten Jugendmassenorganisation ausgesprochen. Der erwähnte Brief stand in Verbindung mit einem Schauprozeß in Tirana, in welchem behauptet wurde, daß zehn albanische „Verräter“ geplant hätten, mit Hilfe Jugoslawiens, Griechenlands und der 6. amerikanischen Flotte das Regime Hodscha zu stürzen. Heute fürchtet man die Sowjetflotte viel mehr in Albanien, die die dortigen Basen ausgebaut hatte und dann mit knirschenden Zähnen doch verlassen mußte. Inzwischen hat die sowjetische U-Boot-Flottille den unterirdischen Stützpunkt Saseno samt ihrem Mutterschiff ohne einen Schuß geräumt.

So konnte sich die albanische Geheimpolizei auf die Vorbereitung neuer Schauprozesse und zur Bekämpfung der schleichenden Feinde des Regimes konzentrieren. Ein Plädoyer eines Staatsanwaltes hob hervor, daß seit 1959 mehrere Prozesse gegen „Spione und Abweichler“ stattgefunden haben. Aus ihnen erfuhr man angeblich den Stand der Vorbereitungen für eine bewaffnete Erhebung. Man hat angeblich in vier südalbanischen Städten „Spionagezentren“ ausgehoben. Im Norden hat man wiederum einen „jugoslawischen Spionagering“ entdeckt. Alle Zentren hätten auf eine bewaffnete Gegenrevolution hingearbeitet. In dieser Situation ist die Stärkung der Verteidigungsbereitschaft höchst angebracht. Wenn man einen einzigen mächtigen Protektor hat und der so weit liegt wie China, braucht man eine große Portion von „revolutionärer Wachsamkeit“, um ruhig schlafen zu können. Oder würde eine „Eselsbrücke“ in Richtung Moskau auch genügen?

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