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Turnen ohne „Rauschebart

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HÖCHSTE KONZENTRATION LIEGT AUF DEN GESICHTERN. Die sechs Sportler für den 4Xioo-m-Lauf warten auf das Startkommando. Die Muskeln sind gespannt. Da, der Startschuß. Die sechs Läufer schnellen ab wie aus der Pistole geschossen, den Staffelstab fest in der Hand. Nur wenige Sekunden dauert der Lauf, dann wartet schon der Mann der zweiten Etappe. Dritte Stabübergabe, vierte Stabübergabe. Die Anhänger der Sportler und die Klubkameraden feuern ihre Leute auf der Aschenbahn mit Rufen an. Harter Endspurt vor dem Ziel — die Entscheidung ist gefallen. Die drei besten Staffeln werden geehrt, die anderen verschwinden wieder im Heer der Sportler.

Linz war dieser Tage so ein Heerlager für eine friedliche Demonstration der österreichischen Sportlerinnen und Sportler. Die Dritten Union-Bundeskampfspiele der Österreichischen Turn- und Sport-Union rollten fünf Tage in der oberösterreichischen Hauptstadt ab. Ein Treffen von mehr als 11.500 aktiven Sportlern aus ganz Österreich, die in 23 Sportarten ihr Amateurkönnen zeigten und ihre Besten ermittelten. Ein reines Sportfest, bei dem auch Verbände der Staaten anwesend waren, die der „Fédération Internationale Catholique d’Education Physique” angehören. Sportler aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Spanien, der Schweiz und den Niederlanden waren gekommen, um ihre Länder bei den FICEP- Meisterschaften zu vertreten. Belgien schickte 120 Sportlerinnen und Sportler, die Niederlande 80, Spanien 15, die Schweiz 60, Westdeutschland 80 und Frankreich 200, einschließlich einer Kapelle, die sehr großen Erfolg für sich buchen konnte. Dieses Heer betreuten 2400, zum Großteil ehrenamtliche .Mitarbeiter.

Die Finanzierung des Festes erfolgte durch Gelder, die aus dem Sporttoto kommen, aus Beiträgen des Bundesverbandes und der Länderverbände, der Ministerien, der Landesregierung von Oberösterreich, der Stadt Linz und einer Kampfspielspende aller Mitglieder in der Höhe von 175.000 S. Das Fest hat rund eineinhalb Millionen

Schilling gekostet und wäre weitaus größer gewesen, wie der Bundesobmann der Union, Kommerzialrat Anton Marousek, sagte, wenn mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestanden wären. Die einzelnen Sportler finanzierten ihre Teilnahme selbst. Abgesehen vom Hotel oder Quartier mußten Jugendliche bis zum Jahrgang 1943 einen Festbeitrag von 15 S zahlen, Erwachsene 30 S. Außerdem mußte noch ein Startgeld von 10 S erlegt werden. Für Gäste betrug der Festbeitrag 40 S.

Es hat einen besonderen Grund, warum man die Teilnehmer, auch die Union-Leute, ihren Teil selbst zahlen ließ und das Fest nicht zu einer allgemeinen Sporteinladung gestaltete. Es dient zur moralischen Festigung, daß vor allem der junge Mensch weiß, er bekommt nichts geschenkt, muß aber doch etwas leisten. Hätte die Union allgemein finanziert, so wären mehr gekommen, und für den Aufenthalt gerade einmal gelaufen, geschwommen oder nur so einmal angetreten. Aber gerade das wollte man vermeiden.

DIE ÖSTERREICHISCHE TURN- UND SPORT-UNION besteht mit ihren sehr bedeutenden Vorläufern schon seit dem 22. März 1900. Es waren einfache Überlegungen, aus denen sie gegründet wurde. Um die Jahrhundertwende war es einem Katholiken nämlich fast unmöglich, in einer Gemeinschaft Leibesübungen zu betreiben. Es existierten damals nur Turn- und Sportvereine, die der Sozialdemokratischen Partei angehörten, und die deutschen Turnerbünde, die sowohl antikirchlich als auch antiösterreichisch eingestellt waren. Ein begeisterter Turner nahm die neue Sache in die Hand, und im März 1900 fand die Gründungsversammlung statt. Zweck und Ziel dieses Turnverbandes war, den katholischen Männern m Österreich die Möglichkeit zu geben, zu turnen, ohne daß sie ihrer Gesinnung wegen angefeindet oder verspottet würden. Der Gründer, Doktor Anton Frey, wollte das Turnen von den deutschnationalen Eierschalen befreien. Er strebte an, daß das Turnen nicht nur der Leibesertüchtigung diene, sondern auch der Bildung des Geistes und der Stärkung vaterländischer Gesinnung.

Immer mehr christlich-deutsche Turnvereine — wie man sie damals nannte — wurden gegründet. Zuerst in Wien, dann in Niederösterreich. Trotz heftiger Angriffe der sozialdemokratischen und deutschnationalen Presse ergriff der Gedanke der „Christlich-Deutschen Turnerschaft” immer weitere Kreise, und fand sogar in der deutschen Bevölkerung von Böhmen und Mähren große Sympathien. 1912 nahmen bereits Abordnungen aller bestehenden christlich-deutschen Turnvereine am XII. Eucharistischen Weltkongreß in Wien teil.

Pfingsten 1914 wurde der Reichsverband christlich-deutscher Turnvereine gegründet. Er umfaßte 26 Vereine im Gebiet des heutigen Österreich, 25 Vereine in Böhmen und 21 in Mähren. Der erste Weltkrieg legte den Turnbetrieb lahm. Die Turner mußten an die Front, furchtbarer Blutzoll wurde geleistet.

Nach dem Ende des Krieges ging man daran, das Zerbrochene wieder zusammenzuflicken. 1921 gab es bereits wieder 42 Vereine, und zwei Jahre darauf begann die große Entwicklung der „Christlich-Deutschen Turnerschaft”. Indirekt spielte die Turnerschaft auch in der Politik des damaligen Österreich eine Rolle. Man schrieb das Jahr 193 3. Bei einem Fest in Krems wurde von SA-Leuten in den marschierenden Turnerzug eine Hand- gl anate geworfen, die ein paar Leute schwer verletzte. Dieses Attentat war dann der eigentliche Anlaß zum Verbot der NSDAP in Österreich. 1936, als in Österreich schon ein heftiger LIntergrund arbeitete, gab es noch einen Höhepunkt: Der Verband veranstaltete ein internationales Turnfest der Katholischen Turnunion. Zwei

Jahre darauf senkten sich braune Schatten über Österreich, und im März wurden die Turnvereine aufgelöst, ihr Eigentum beschlagnahmt:

Sofort nach dem zweiten Weltkrieg trafen sich die Leute wieder, die vor dem Anschluß die „Christlich-Deutsche Turnerschaft” geleitet hatten und bauten die Turn- und Sport- Union auf. Überall entstanden in der Folgezeit Union-Vereine, und am 1. September 1946 turnten in 243 Vereinen bereits 35.458 Mitglieder. Immer höher kletterten die Mitgliedszahlen — bis heute 372.048 — und klettern noch weiter. In Schwimmen, Leichtathletik, Fechten, Basketball, Radfahren und Turnen bestehen die Nationalmannschaften bis zu achtzig Prozent aus Union-Sportlern. Von hundert österreichischen Olympiakämpfern in Rom im vergangenen Jahr waren 29 Union-Mitglieder. In ganz Österreich stehen heute mehr als 8800 Union-Mitglieder in ihrer Freizeit unentgeltlich als Trainer in den Vereinen zur Verfügung, und mehr als 7000 als Amtswalter dienen im Sinn der Union-Idee.

Um einen Blick auf die Bilanz der Union zu werfen: In 686 Vereinen — das ist der Stand vom Jänner 1960; bis heute sind es wesentlich mehr — werden 38 Sportarten ausgeübt. In den Jahren 1957 und 1958 erreichten die Union-Sportler einen Weltrekord, einen Eüroparekord, 74 österreichische Rekorde, 16 Landesrekorde, 259 Staatsmeistertitel und 1749 Landesmeistertitel. Bis zum Jänner 1960 nahmen die Union-Sportler bei den Staatsmeisterschaften 576 erste bis sechste Plätze ein, bei den Landesmeisterschaften 3051.

DAS GRÖSSTE FUSSBALLTURNIER SEIT DEM KRIEG ging in Linz im Rahmen der Union-Bundeswettspiele in Szene. 104 Mannschaften spielten fast ununterbrochen auf zehn Plätzen, bis der Sieger ermittelt war. Im Tischtennis gab es 516 Nennungen, im Handball traten 44 Mannschaften an, im Radball 4, im Faustball 74. Für die allgemeinen Übungen waren 47 Männervereine und 42 Frauenvereine nominiert und mehr als 4100 Leichtathleten kämpften um den ersten Platz in ihren Disziplinen.

Eineinhalb Jahre dauerten die Vorbereitungen zu dieser imponierenden Demonstration für den Sport, bei der wirklich alles, was man sich wünschen konnte, aufgefahren war. Besonders interessant ist, daß auch für die Landbevölkerung eine geradezu ideale Sportart „neuentdeckt” wurde: das ländliche Reiten. Der Bauer wird körperlich durch seine schwere Arbeit verbildet, und da springt das Reiten in die Bresche. Das Geradesitzen im Sattel schafft einen Ausgleich, der nicht zuletzt auch psychologische Bedeutung aufweist. Der Mensch bekommt Freude am Tier und sieht es als seinen vierbeinigen Kameraden und nicht nur als Roboter, über den geherrscht wird. Im Rahmen eines Reitersportfestes war diese Disziplin bei den Union-Spielen vertreten. Am

Start waren 84 Reiter und Pferde, die in Hauptprüfung, Kürvorführungen und Jagdspringen das Können der Warmblut-, Noriker- und Haflingerpferde zeigten. Auf dem Land bilden sich immer mehr Reitvereine im Rahmen der Österreichischen Turn- und Sport-Union. Ein erfreuliches Zeichen in einer Zeit, in der der Traktor „Kamerad Pferd” von den Höfen zu vertreiben beginnt, das auch Landwirtschaftsminister Dipl.-Ing. Hartmann begrüßte.

BASKETBALL IST IN ÖSTERREICH EINE JUNGE SPORTART. In der relativ kurzen Zeit, in der das Korbballspiel bekannt ist, hat es so viele Männer und Frauen angezogen, wie selten ein Sport. Die Union steht hier in Quantität und Qualität an der Spitze. Mehr als die Hälfte aller Basketballvereine in Österreich gehören der Union an. Unter den 18 Staatsligamannschaften der Männer sind zehn Union-Vereine, der prominenteste Klub ist Union-Babenberg — ein mehrfacher österreichischer Meister —, das Nationalteam setzt sich zur Hälfte aus Union-Spielern zusammen und der größte Basketballer mit 2,10 Meter Körperlänge spielt bei Union-Kuen-

ring. Mit 71 Basketballmannschaften war es das größte Turnier, das je in Österreich in dieser Sportart gespielt wurde. Rund 700 Spieler trachteten von 8 bis 22 Uhr, der anderen Partei — völlig unpolitisch natürlich — Körbe einzuwerfen. Und das gleichzeitig auf sechs Plätzen.

Wie steil der Aufstieg des Basketballs in den letzten Jahren in Österreich war, kann man ersehen, wenn man einen Blick auf die Basketballmannschaftsbeteiligung in Wien und Graz, den Schauplätzen der ersten beiden Bundeskampf spiele, wirft. Vor zehn Jahren in Wien waren 36 Vereine angetreten, fünf Jahre darauf in Graz 46. Und jetzt in Linz waren es 71.

IM SPORT VOLLZIEHT SICH EIN STRUKTURWANDEL, wie die Bundeskampfspiele deutlich zeigten. Mit der Hebung des Lebensstandards steigen auch die Ansprüche im Sport. Ehemalige Nobelsportarten werden immer populärer, und das Turnen ä la Vater Jahn ist in’erster Linie nur noch für die Leichtathleten interessant. Tennis, Fliegen, Segeln, Wasserskilauf und all das, was früher ein Privileg der oberen Zehntausend war, ist heute der breiten Masse zugänglich.

In Linz wurden Rekorde gebrochen, Rekorde auf gestellt. Bruno Leu, ein Amateurschwimmer, verbesserte beispielsweise seinen Rekord im Schmetterlingschwimmen über hundert Meter von 1:05,5 auf 1:05,3. Bei den internationalen Leichtathletikwettkämpfen konnte Helmut Donner im Hochsprung seinen eigenen Rekord von 2,01 Meter auf 2,02 Meter verbessern. Jedoch der größte Rekord, den es gab, war die Demonstration der Zusammengehörigkeit ohne die leicht verstaubten Thesen der späten, unentwegten Jünger des deutschen Turnvaters Jahn.

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