Down Syndrom - © Foto: Rainer Messerklinger

Leben mit Down-Syndrom: Am Rand der Gesellschaft

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Welche Bedürfnisse haben Menschen mit Down-Syndrom? Wie reagiert die Umwelt auf sie? FURCHE-Layouter Rainer Messerklinger kann sich in seiner Funktion als Besuchsdienst regelmäßig ein Bild davon machen. Protokoll einer außergewöhnlichen Beziehung.

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Welche Bedürfnisse haben Menschen mit Down-Syndrom? Wie reagiert die Umwelt auf sie? FURCHE-Layouter Rainer Messerklinger kann sich in seiner Funktion als Besuchsdienst regelmäßig ein Bild davon machen. Protokoll einer außergewöhnlichen Beziehung.

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Ein Gemeindebau in Wien-Ottakring. Es ist kurz vor Weihnachten. Ich läute bei der Caritas-WG an. Einer Wohngemeinschaft für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen. In der Hand halte ich einen digitalen Fotorahmen. Als Geschenk verpackt. Eine Betreuerin öffnet die Tür. Ich werde schon erwartet. Von Manuel (Name geändert). Er kennt mich nicht, weiß aber, dass ich ihm seinen Weihnachtswunsch erfülle. Organisiert wurde das von der „Caritas-Christkindlaktion“.

Auch einige der anderen Bewohner sind da. Ein junger Mann mit Down-Syndrom fällt mir auf. Er ist exzentrisch, extrem laut und lacht ausgelassen. Tom (Name geändert) versprüht Lebenslust. Das imponiert mir. Als ich den gedeckten Tisch sehe und allgemein in die Runde frage „Was gibt es zur Jause?“, ist es auch Tom, der mir euphorisch zuruft: „Aufstrichbrote, Aufstrichbrote, Aufstrichbrote.“

Im TV läuft „Musikantenstadl“

Da ich schon länger mit dem Gedanken spiele, ein Ehrenamt zu übernehmen, frage ich die WG-Leiterin, ob es Bedarf an Besuchsdiensten gibt. Als Zivildiener hatte ich Anfang der Nullerjahre einen älteren Mann mit Down-Syndrom betreut. Nach dem Zivildienst sind wir einmal in der Woche auf eine Diabetikerschnitte ins Café Mozart gegangen. Vier Jahre lang. Dann ist er gestorben.

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In der Caritas-WG freut man sich tatsächlich über Leute, die die Bewohner regelmäßig besuchen und/oder etwas mit ihnen unternehmen. Zwar kommt mein Weihnachtsschützling Manuel dafür nicht infrage – er übersiedelt zu seinen Verwandten nach Kärnten –, dafür aber einige andere. Toms Name fällt. Der Vorstellung, einen Teil meiner Zeit mit diesem aufgeweckten Kerl zu verbringen, kann ich etwas abgewinnen. Ich überlege nicht lange und vereinbare ein Kennenlerntreffen.

Es ist ein Sonntag, als ich erneut bei der Wohngemeinschaft anläute. Heute ist Toms und mein Debüt. Ich bin nervös. Wie wird er auf mich reagieren? Wird er Vertrauen fassen? Kann ich seine Bedürfnisse richtig einschätzen? Als ich eintrete, hält sich Tom im Wohnzimmer auf. Er steht vor dem Fernseher, singt und tanzt. Auf ORF 2 läuft die Wiederholung vom „Musikantenstadl“. Als er mich entdeckt, ruft er überschwänglich: „Autodrom! Prater! Autodrom!“ Ich bin fast verwundert. Ich bin davon ausgegangen, dass Tom Zeit brauchen wird, um sich an mich zu gewöhnen. Dass wir es langsam angehen lassen. Auch Ablehnung wäre denkbar gewesen. Nichts von alledem tritt ein.

Stattdessen will er in den Prater. Natürlich werde ich ihm diesen Wunsch erfüllen. Bevor wir losziehen, löchere ich eine Betreuerin mit Fragen. Trägt Tom eine Windel? Nein. Was mache ich, wenn er auf die Toilette muss? Er artikuliert sich. Was soll er wann essen? Er sagt es, wenn er hungrig ist. Ja, und ich erfahre, dass sich Tom fürchtet, wenn es an einem Ort ganz besonders finster ist. Eine Info, für die ich dankbar bin. Schließlich soll der Besuch Spaß machen und keine Ängste auslösen.

Seit diesem Märztag 2013 sind wir unzählige Male im Prater beim Autodrom gewesen. Tom sitzt am Steuer, ich schaue zu. Er ist laut, exzentrisch und ausgelassen – genau wie damals, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Dass wir mit dieser Art auffallen, ist selbsterklärend. Die Leute schauen. Immer. Aber wenn sie sehen, dass es sich bei dem Krachmacher um einen Menschen mit Down-Syndrom handelt, ignorieren sie uns. In der Regel.

Er ist laut, exzentrisch und ausgelassen. Dass wir auffallen, ist selbsterklärend. Die Leute schauen. Immer. Doch dann ignorieren sie uns.

Es ist aber auch schon passiert, dass Tom ausgelacht wurde. Oft von pubertierenden Mädchen. Und einmal hat eine Frau, das war so eine ältere, feine Dame in der Bim, bei ihrer Sitznachbarin über Toms Verhalten gelästert. Die andere Frau hat nur verdutzt geschaut und in gebrochenem Deutsch gesagt: „Der ist krank.“ Ich betone das mit dem gebrochenen Deutsch deshalb, weil die Frau vermutlich nicht die richtigen Worte parat hatte.

Das Down-Syndrom ist keine Krankheit. Toms genetische Ausstattung weicht vom Normalzustand ab. Er hat drei Exemplare vom Chromosom 21. Obwohl er 32 Jahre alt ist, ist er in vielerlei Hinsicht auf dem Entwicklungsstand eines Vierjährigen. Dazu kommt seine Echolalie: Er wiederholt alle Wörter und Geräusche, die er hört. Das verstört manche Menschen, hemmt und ängstigt sie. Ich verstehe das. Mir ist es anfangs auch so gegangen. Tom sieht sich auf Augenhöhe mit Kindern, hätte gerne mehr Kontakt zu ihnen. Dieses Bedürfnis ist kaum erfüllbar. Er trifft Kinder nur zufällig. Im Schwimmbad, im Park oder eben beim Autodrom-Fahren. Seine schönsten Momente sind, wenn er sich eingebettet fühlt in eine Gemeinschaft. Sicher, dafür hat er seine Wohngemeinschaft. Aber die hat er sich nicht selbst ausgesucht. Er ist eingegliedert in die Struktur, aber richtig selbstbestimmt leben kann er nicht.

Menschen mit Down-Syndrom werden fast nie als erwachsene Menschen erkannt. Mein Ehrenamt führt mir deutlich vor Augen, welche Rolle Menschen wie Tom in unserer Gesellschaft spielen: Ihr Platz ist am Rand. Egal wie wohlwollend sich die Leute verhalten, egal wie barrierefrei die Öffis gemacht werden, egal wie viel von Inklusion gesprochen wird – eine echte Teilhabe bleibt verwehrt. Interessant finde ich auch, wo die Wohnhäuser und Werkstätten von Menschen mit geistiger Behinderung verortet sind. Sie befinden sich in Randlagen, in Außenbezirken, im Außen. Für mich hat das Symbolkraft.

Kein Kontakt zur Mutter

Wenn Tom ein weißes Auto sieht, dann sagt er „Mama“. Dabei hat er zu seiner Mutter praktisch keinen Kontakt. Sie hat ihn nach seiner Geburt im Spital zurückgelassen, nachdem sie erfahren hatte, was mit ihm los ist. Tom wuchs in einem SOS-Kinderdorf auf. Sein Vater hat sich nie zu ihm bekannt. Dafür bemüht sich dessen Mutter partiell um ihren Enkel. Tom besucht sie jeden zweiten Sonntag zum Mittagessen. Dann gibt es Schnitzel mit Kartoffelsalat.

Die Coronakrise hat vieles verändert. Im Lockdown musste Tom über Wochen in seiner WG bleiben. Die Vorgaben des Trägervereins waren streng. Wenn die Betreuer mit der WG an die frische Luft gegangen sind, befanden sie sich in einer rechtlichen Grauzone. Ich durfte Tom auch nicht sehen. Ich habe versucht, mit ihm zu telefonieren. Doch Telefonieren mit Tom ist schwierig. Die Situation hat mich traurig gemacht. Tom gehört zu meinem Wochenrhythmus, genauso wie ich zu seinem. Jetzt hat sich vieles wieder normalisiert. Bei unserem Wiedersehen hat Tom auf mich reagiert, als wäre nichts gewesen. Er hat mir „Autodrom! Prater! Autodrom!“ zugerufen. Ich hoffe, Corona funkt uns so bald nicht mehr dazwischen.

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