6575925-1950_43_14.jpg
Digital In Arbeit

Der sdiledite Film

Werbung
Werbung
Werbung

Im Kino, auf der Leinwand, geht, nein, schwankt Tom Garner, ein großer, breitschultriger Mann, ein Erbauer von Eisenbahnen, Präsident der Chikago- und Südwestlinie, in sein Zimmer und schließt die Tür zu.

Du weißt, daß er im Begriff steht, Selbstmord zu begehen, weil er ins Schwanken geraten ist, und es ist ein Film, und es ist schon lange Zeit vergangen, seit die Vorstellung anfing, und irgend was muß sehr bald geschehen, irgend etwas Großes, Gigantisches, wie sie in Hollywood sagen, ein Selbstmord oder ein Kuß.

Du sitzt im Theater und wartest auf das, was, wie du weißt, geschehen wird.

Der arme Tom hatte gerade erfahren, daß die männliche Nachkommenschaft seiner zweiten Frau das Produkt des erwachsenen Sohnes seiner ersten Frau ist. Toms erste Frau beging Selbstmord, als sie erfuhr, daß Tom sich in die junge Frau verliebt hatte, die schließlich seine zweite Frau wurde. Diese junge Frau war die Tochter des Präsidenten der Santa-Clara-Eisenbahn. Sie machte, daß Tom sich in sie verliebte, damit ihr Vater weiterhin Präsident der Santa Clara bleiben konnte. Tom hatte die Santa Clara für neun Millionen Dollars gekauft. Toms erste Frau warf sich unter eine Straßenbahn, als sie hinter Toms Betörung kam. Sie tat es bühnenmäßig, mit ihrem Gesicht, ihren Augen und Lippen und mit der Art, wie sie ging. Du bekamst nichts Ekelerregendes zu sehen, du sahst nur den irrsinnigen Gesichtsausdruck des Wagenführers, als er versuchte, den Wagen zum Halten zu bringen. Du hörtest und sahst das stählerne Rad knirschen, das Rad, welches sie tötete. Du hörtest die Leute so kreischen, wie sie's bei gewaltsamen Ereignissen tun, und du erfaßtest den Sinn. Das Schlimmste war geschehen.

Sally begegnete Tom, als er in Streckenwärter und sie Lehrerin in einer kleinen Dorfschule war. Tom gestand ihr eines Tages, daß er nicht lesen, schreiben und rechnen könne. Sally lehrte Tom Lesen, Schreiben, Addieren, Subtrahieren, Dividieren und Multiplizieren. Eines Abends, nachdem sie verheiratet waren, fragte sie ihn, ob er sein Leben lang ein Streckenwärter bleiben möchte, und er sagte, daß er's wolle. Sally fragte ihn, ob er nicht doch ein bißchen Ehrgeiz habe, und Tom sagte, daß er zufrieden sei, Streckenabgehen sei leichte Arbeit, und sie hätten ihr kleines Heim, und Tom verdiente eine Menge nebenbei. Das wurmte Sally, und sie begann zu handeln. Tom sah, daß es Sally viel bedeuten würde, wenn er Ehrgeiz entwickelte. Am Abendbrottisch sitzend, sagte er, daß er ehrgeizig werden würde. Ein seltsamer Blick trat in seine Augen, sein Gesicht nahm den Charakter des Großen an. Du konntest nahezu sehen, wie er sich im Leben vorwärtshämmerte.

Sally schickte Tom nach Chikago auf die Schule, und sie verrichtete seine Arbeit als Streckenwärter, um Geld zum Bezahlen seiner Ausbildung zu haben, eine prächtige Frau, eine heldenhafte Gattin. Du sahst sie in einer Winternacht eine Eisenbahnstrecke abgehen, mit Werkzeugen und Ölkannen beladen. Schnee und Verlassenheit rings um sie her. Es war traurig. Es sollte traurig sein. Sie tat es für Tom, so daß er imstande sein würde, ein großer Mann zu werden. Am Tage, an dem Tom meldete, daß man ihn zum Vormann beim Bau der Missouribrücke gemacht habe, meldete Sally, daß sie mit einem Kinde gehe, und Tom sagte, nun könne ihn niemand mehr aufhalten. Von Sally und seinem kleinen Kinde angefeuert, würde er den Gipfel erklimmen.

Sally schenkte einem Sohn das Leben, und als Tom neben ihr Bett trat, vernahmst du symphonische Musik, und du wußtest, daß dies ein großer Augenblick in Toms Leben war. Du sahst Tom das schwach erhellte Zimmer betreten und neben seinem Weib und seinem kleinen Sohn knien, und du hörtest ihn beten.

Du hörtest ihn sagen: Vater unser, der du bist im Himmel, dein sei die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Du hörtest zwei Leute im Theater sich schneuzen.

Sally machte Tom. Sie nahm ihn von der Strecke herunter und schickte ihn auf den Präsidentenstuhl. Dann wurde Tom von dieser jüngeren und lieblicheren Frau betört, und Sally warf sich unter die Straßenbahn. Es war um dessent-willen, was sie für Tom getan hatte, daß ihr Selbstmord so rührend war. Darum traten so vielen Leuten im Theater Tränen in die Augen, als Sally sich selbst zerstörte.

Doch Sallys Selbstmord blieb ohne Wirkung auf Toms Vernarrtheit in die jüngere Frau, und nach kurzer Zeit heiratete er das Mädchen, denn er war zeitweise ein praktischer Mann, er war solange praktisch, wie Hollywood ihn praktisch haben wollte. Toms Sohn, ein junger Mann, der gerade wegen Trunksucht vom College ausgeschlossen worden war, zog in Toms Haus und hatte eine Liebesaffäre mit Toms zweiter Frau.

Das Ergebnis war ein Säugling, ein richtiger gesunder Säugling, vom Sohn statt vom Vater gezeugt. Toms Sohn Tommy ist ein unverantwortlicher, aber ernsthafter und gutangezogener, junger Mann, und er hatte wirklich nicht die Absicht, das zu tun. Die Natur tat's. Du weißt, wie die Natur ist, sogar in Filmen. Tom war viel geschäftlich von zu Hause abwesend, und seine zweite Frau so einsam gewesen, daß sie sich dem Sohn ihres Gatten zugewendet hatte, und er war ihr Partner beim Tanz geworden.

Du sahst, wie sie dem jungen, unverantwortlichen Burschen die Hand hinstreckte, und du hörtest sie ihn bedeutsam fragen, ob er gern mit ihr tanzen würde. Er brauchte so lange, um ihre Hand zu ergreifen, daß du die schreckliche Verwicklung auf der Stelle verstandest. Und sie war, als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, so zum Verrücktwerden schön, daß du wußtest, du würdest niemals imstande gewesen sein, ihrer Herausforderung zu widerstehen, selbst unter ähnlichen Umständen. Es lag etwas Unwiderstehliches in der Vollkommenheit ihres Gesichts und ihrer Gestalt.

Es mußte einfach geschehen. Der Mensch besteht aus Fleischeslust und so fort.

So geschah's, daß der große Eisenbahnbauer, der Mann, der immer seinen Willen gehabt hatte, der Mann, der einen Streik brach und dem vierzig von seinen

Leuten in einem Aufruhr und in einer Feuersbrunst getötet wurden, in sein Zimmer schwankte und die Tür verschloß.

Und du weißt, daß der Film gleich zu Ende sein wird.

Die Atmosphäre des Theaters wird elektrisch von den Befürchtungen der Damen mittleren Alters, die den besseren Teil ihres Lebens in den Kinos verbracht haben, liebend, sterbend, sich edlen Idealen opfernd usw. Sie sind wieder einmal in das dunkle Theater gekommen, und wieder einmal schwebt ein Augenblick gewaltigen Lebens über ihnen.

Du kannst die geistige Gespanntheit all dieser Damen spüren, und wenn du sorgfältig lauschst, kannst du sie wahrhaftig im vollsten Sinne leben hören.

Da drinnen ist nun der arme Tom mit einem schrecklichen Problem und einer scheußlichen Verpflichtung.

Um seiner Ehre willen, um der Ethik von Hollywood willen, um der Industrie willen (der drittgrößten Amerikas, soviel ich weiß) hat Tom Selbstmord zu begehen. Tut er's nicht, so bedeutet's glattweg, daß wir uns in allen diesen Jahren betrogen haben, Shakespeare und wir übrigen alle. Einen Augenblick lang hoffen wir, daß er's nicht tun wird, eben um zu sehen, was dann geschehen wird, eben um zu sehen, ob die Welt, die wir aufgerichtet haben, tatsächlich zusammenstürzt.

Vor langer Zeit stellten wir die Gesetze auf, und nun, nach so vielen Jahren, sind wir neugierig, ob sie echte Gesetze sind, oder ob uns nicht vielleicht schon zu Beginn ein Fehler unterlaufen ist. Wir wissen, es ist Kunst, und es sieht sogar ein bißchen nach Leben aus, doch wir wissen, daß es nicht das Leben ist, weil es viel zu präzis ist.

Wir möchten gern erfahren, ob unsere Größe notwendig bis in alle Ewigkeit hinein melodramatisch bleiben muß.

Die Kamera verweilt auf dem bestürzten Gesicht von Toms altem und treuem Sekretär, einem Mann, der Tom als Jungen gekannt hat. Dies geschieht, um dir die ganze verwickelte Situation Toms klarzumachen und eine starke Ungewißheit in deinem Geist zu schaffen.

Dann, im selben Trab, aus der gleichen Absicht heraus: rasende Zeit, Höhepunkte, letzte Schlüsse, Unabwendbar-keiten, kommt Toms Sohn Tommy zum alten und treuen Sekretär und ruft aus, daß er gehört habe, Tom, sein Vater, sei krank. Er weiß nicht, daß sein Vater weiß. Das ist ein Hollywood-Augenblick. Du hörst angemessene Musik.

Er stürzt zur Tür, um zu seinem Vater zu gehen, dieser Junge, der die natürliche Ordnung der Welt umstürzte, indem er einen Liebeshandel mit der jungen Gattin seines Vaters hatte, und dann, bang, der Pistolenschuß.

Du weißt, daß es vorbei ist mit dem Präsidenten der Chikago- und Südwestlinie. Seine Ehre ist gerettet. Er bleibt ein großer Mann. Wieder einmal triumphiert die Industrie. Die Würde des Lebens ist gewahrt. Alles ist in bester Butter. Es wird Hollywood für ein nächstes Jahrhundert möglich sein, Filme für das Publikum zu drehen.

Alles ist präzis, auf Effekt hin. Halt. Symphonische Musik, Tommys Hand auf dem Türknauf erstarrt.

Der alte und treue Sekretär weiß, was geschehen ist, Tommy weiß es, du weißt's, und ich weiß es, aber es geht nichts über das Sehen. Der alte und treue Sekretär gestattet der völligen Realität des Pistolenschusses, seinen alten, treuen und sittsamen Geist zu durchdringen. Dann, da Tommy zu bange ist, es zu tun, zwingt er sich, die Tür zu öffnen.

Wir alle warten darauf, zu sehen, wie es geschah.

Die Tür öffnet sich, und wir gehen hinein, fünfzig Millionen von uns in Amerika und Millionen mehr auf der ganzen Erde.

Armer Tom. Er sinkt auf die Knie nieder, und irgendwie, obwohl es sehr rasch geschieht, scheint es, daß diese kleine Handlung, welche die letzte eines großen Mannes ist, endlos weitergehen wird, dieses Auf-die-Knie-Sinken. Das Zimmer ist dunkel, die Musik beredt. Es gibt kein Blut, keine Unordnung. Tom sinkt auf die Knie, stirbt adelig. Ich selbst höre zwei Damen weinen. Sie wissen, daß es ein Film ist, sie wissen, daß es Schwindel sein muß, dennoch weinen sie. Tom ist der Mensch. Er ist das Leben. Es macht sie weinen, das Leben auf die Knie sinken zu sehen . Der Film wird in einer Minute vorbei sein, und sie werden auf-stehn und heimgehn und hinuntergelangen zu den gewöhnlichen Geschäften ihres Lebens, aber jetzt, in der zärtlichen Dunkelheit des Theaters, weinen sie.

Alles, was ich weiß, ist dies: daß ein Selbstmord kein sauberes Ereignis mit symphonischer Musikbegleitung ist. Da war einst ein Mann, der lebte im nächsten Haus neben dem meinen, als ich ein Bub von neun oder zehn war. Eines Nachmittags beging er Selbstmord, aber er brauchte mehr als eine Stunde dazu. Er schoß sich durch die Brust, verfehlte sein Herz, dann schoß er sich durch den Magen. Ich hörte beide Schüsse. Es lag eine Pause von ungefähr vierzig Sekunden zwischen den Schüssen. Ich dachte hinterher, daß er in dieser Pause sich wahrscheinlich zu entscheiden versuchte, ob er weiter auf seinem Verlangen, tot zu sein, bestehen, oder ob er versuchen sollte, gesund zu werden.

Dann begann er zu brüllen. Das Ganze war ein Durcheinander, physisch und geistig, der brüllende Mann, die Leute, die herumrannten, riefen, etwas tun wollten und nicht wußten, was. Er brüllte so laut, daß die halbe Stadt ihn hörte.

Das ist alles, was ich über normale Selbstmorde weiß. Ich habe nicht zugesehen, wie eine Frau sich unter die Straßenbahn warf, darum kann ich nichts darüber sagen. Dies ist der einzige Selbstmord, über den ich eine genaue Information besitze. Die Art, wie dieser Mann brüllte, würde niemandem in einem Film gefallen. Sie würde niemanden vor Freude weinen machen.

Ich denke, es läuft darauf hinaus: wir müssen das Begehen von Selbstmord im Film einstellen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung