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Auf die Bremse steigen und umkehren

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In den Trümmern ihrer Autos oder unter den Rädern sterben jährlich 1.400 Österreicher. Etwa zehnmal so viele werden schwer verletzt. Lärm und Gestank erfüllen die meisten Straßen in unseren Städten. Auf den Fahrbahnen herrscht das Recht des Stärkeren.

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In den Trümmern ihrer Autos oder unter den Rädern sterben jährlich 1.400 Österreicher. Etwa zehnmal so viele werden schwer verletzt. Lärm und Gestank erfüllen die meisten Straßen in unseren Städten. Auf den Fahrbahnen herrscht das Recht des Stärkeren.

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Wir haben uns an die Aggression gewöhnt. Hübsche Plätze erscheinen als Blechwüste, Eltern mit Kinderwagen und Behinderte können wegen parkender Autos kaum die Straßenseite wechseln. Die gravierenden gesundheitlichen und ökologischen Probleme, die der Verkehr verursacht, sind noch gar nicht genannt. Die herrschende Mobilitätsideologie verdrängt all das oder nimmt es fatalistisch hin.

Die Ethik, als Wissenschaft vom guten Handeln, beginnt, systematisch über die Mobilitatsfrage nachzudenken. Die Aufgabe ist schwierig, weil die Lage äußerst komplex ist: Alle in unserer Gesellschaft sind Nutznießer der ungeheuren Mobilität - gleichzeitig leiden jedoch alle unter ihren Folgen. Aber Nutzen und Schaden sind ungleich verteilt. Selbst in unserer eigenen Einschätzung wandeln sich die Gesichtspunkte schnell - je nachdem, ob wir gerade versuchen, zu Fuß den Gürtel zu queren oder mit quietschenden Reifen und blanken Nerven einen Parkplatz suchen.

Hinzu kommt die wirtschaftliche Verflechtung des Verkehrs und damit eine weitere Komplexität. Es gibt den notwendigen Transport von Gütern, und es gibt das unnötige Verschieben von Waren. Es gibt den Berufsverkehr, der für den Arbeitnehmer ad hoc unerläßlich ist, während er sich doch darüber Gedanken machen könnte, wieso er eigentlich täglich 20 Kilometer zurücklegen muß. Im Stau hat er zunehmend mehr Zeit dazu. Es gibt den Einkaufs- und den Freizeitverkehr. Wo immer von einer Einschränkung der motorisierten Mobilität die Rede war, erhob sich ein Wehgeschrei: Arbeitsplätze sind gefährdet - oder gar der Industriestandort.

In dieser verwirrenden Lage tut es Not, sich einiger grundsätzlicher ethischer Prinzipien zu erinnern:

■ Die Vor- und Nachteile unserer Mobilität müssen realistisch gegeneinander abgewogen werden, ohne die gewöhnungsbedingten Verdrängungen. Wie massiv diese sind, zeigen empirische Untersuchungen: Typisch ist, daß der Anteil des Autoverkehrs an der Luftverschmutzung (36 Prozent bei Kohlenwasserstoffen und Staub, 77 bei Stickoxiden und Kohlenmonoxid laut Wiener Verkehrskonzept) unterschätzt, der Nutzen des Pkw überschätzt wird: Seine Durchschnittsgeschwindigkeit bei Strecken bis zu drei Kilometern (31 Prozent der Wiener Binnenfahrten) beträgt elf Stundenkilometer. Die durchschnittlichen Kosten eines Pkw (laut „Öamtc” 15.000 Schilling) werden auf nur 11.000 Schilling geschätzt.

■ Güter, die fundamental für das menschliche Leben sind, haben Vorrang vor darauf aufbauenden Gütern, die nur dem besseren Leben dienen: Gesundheit etwa hat Vorrang vor Bequemlichkeit. Eine nachhaltige, vielleicht irreversible Schädigung des Ökosystems ist in keinem Fall verantwortbar.

■ Ein Massenphänomen wie die Mobilität, dessen Regelung bisher weitgehend der individuellen Verantwortung anheim gestellt war, kann ein Ausmaß an Risiko und Schaden erreichen, das eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung verlangt. Daraus folgt, daß Einschränkungen der persönlichen Verfügungsgewalt über Verkehrsmittel ethisch geboten sein können. Der Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger!” repräsentiert ein veraltetes und völlig unangemessenes Denken.

■ Eine Technologie darf nicht mehr an Problemen verursachen, als sie löst. Demnach ist die Suche nach sanften Lösungen, nach Reduktion des Mobilitätsbedarfs vorzuziehen. Ob die Verkehrspolitik dem bisher Rechnung getragen hat, ist sehr zu bezweifeln.

In ungeeigneter Weise versucht die Autoindustrie, lediglich die Symptome zu begrenzen. „Fiat” entwickelt das Auto für den Dauerstau: mit Fernseher, gegenüberliegenden Sitzen und Klapptisch zum Kartenspielen, integrierter Bar und so weiter ... Lieber immobil, als umzukehren.

■ Die Mobilitätsproblematik kann nicht mehr beherrscht werden, indem! punktuell an Symptomen gebastelt wird. Grundfragen unserer Wirtschaftsordnung sind mit zu re: flektieren. Der Kybernetiker Frederic Vester, der den Verkehr systemtheoretisch analysiert, geht mit den gegenwärtigen politischen Perspektiven hart ins Gericht: „In der Fahrschule lernen wir, den Blick beim Fahren nicht direkt vor die Stoßstange, sondern weit nach vorne zu richten. Unsere Verkehrspolitik schaut leider oft nur auf die Kühlerhaube.”

■ Die Kosten und Nutzen der Mobilität müssen gerecht verteilt werden. Daher müßten normalerweise soziale und ökologische Kosten dem Verursacher in Rechnung gestellt werden. Der Kfz-Verkehr wälzt aber ungeheure Kosten auf die Gemeinschaft ab: Infrastruktur, Umwelt- und Gesundheitsschäden. Die Folge dieser Kostenungerechtigkeit ist, daß sich Alternativen wie der öffentliche Verkehr schwer tun, konkurrenzfähige

Preise anzubieten. Der Kostenwahrheit näherzukommen ist eine Forderung der Gerechtigkeit. Von einer „Restrafung” der Autofahrer kann dabei keine Rede sein, wie deren Lobby gerne behauptet.

Aus dem Prinzip der Gerechtigkeit ergibt sich weiters, daß darauf zu achten ist, auf wessen Kosten bestimmte Gruppen von Bürgern die Vorteile genießen. Denn das Mobilitätsgefälle beinhaltet etwa auch ein soziales Gefälle. Siedler in Luxuswohnungen am Stadtrand, wo viel Grün und gute Luft ist, überrollen zum Beispiel gewohnheitsmäßig die weiter innen Wohnenden mit Verkehr, vergiften deren Luft und parken deren Wohnstraßen zu.

Schließlich verlangt die Gerechtigkeit, die EntScheidungsprozesse in der Verkehrspolitik auf ihren demokratischen Charakter hin zu analysieren und das Übergewicht bestimmter Lobbies abzubauen. Welches Gewicht haben die Interessen alter Menschen, die sich von der Mobilität und ihrer Geschwindigkeit überrollt fühlen? Die Interessen der Kleinkinder, die schon mit Allergien und Hautkrankheiten aufwachsen, und der kommenden Generationen an einer gesunden Umwelt?

Es ist an der Zeit, zu bremsen und umzukehren: persönlich moralisch und politisch. Die Wertmaßstäbe unserer Lebensqualität gehören eingerenkt und selbstgemachte Sachzwän-ge aufgehoben. „Fortschritt” kann nicht mehr mit Fortfahren gleichgesetzt werden.

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