Soldat - © Foto: Pixabay

Nahost: Die Logik des Wahnsinns

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Wie sieht der langjährige Nahost-Beobachter, Präsidentenberater und FURCHE-Herausgeber Heinz Nußbaumer die aktuelle Eskalation in Israel und Gaza? Eine persönliche Einordnung – samt Relecture eigener Kolumnen zu diesem historischen Drama zweier Völker.

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Wie sieht der langjährige Nahost-Beobachter, Präsidentenberater und FURCHE-Herausgeber Heinz Nußbaumer die aktuelle Eskalation in Israel und Gaza? Eine persönliche Einordnung – samt Relecture eigener Kolumnen zu diesem historischen Drama zweier Völker.

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Menschen, die andere Menschen gnadenlos quälen und töten – aus Wut oder Verzweiflung, aus Rache oder Hybris: Als Chronist des Zeitgeschehens war dies das dunkelste Thema meines Lebens. Und es kannte und kennt – bei aller weltweiten Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit – keine ganz aggressions-freie Insel, aber ein furchtbares Hauptquartier: den Nahen Osten mit seinen unaufgelösten historischen Bruderkämpfen um Land, Besitz und Vormacht.

Die „Hölle auf Erden“ – für mich hatte das von allem Anfang an einen Namen mit nur vier Buchstaben: Gaza. Es war der Schauplatz meiner ersten Kriegserfahrungen (1967) – mit allem, was dazugehört: den Bomben, den Minen und Raketen – und mit den ersten, auch zivilen Toten in großer Zahl, sogar ganz unmittelbar am Nebensitz. Zudem der Kulminationspunkt unvorstellbaren Elends. 300.000 Menschen auf engstem Raum anfangs, heute 2,3 Millionen – das größte Freiluftgefängnis der Erde, ohne jede Perspektive. Ein Druckkochtopf, seit 16 Jahren de facto ohne Zugang zur Welt.

Israel und Palästina – wie oft ist dieses Drama schon beschrieben worden: Zwei Völker, die von kolonialen Machtspielen und Holocaust auf knappstem Raum gegeneinander geworfen wurden. Zwei Existenzrechte, die einander auszuschließen scheinen – und die immer wieder in gegenseitiger Unmenschlichkeit entarten. Obwohl alle wissen, dass Israel mit Terror nicht zu vernichten ist. Und dass jede Rakete aus Israel neue Kämpfer für Palästina gebiert. Eine „Nachbarschaft“, die unter Gebirgen von Angst und Aggression, von Überheblichkeits- und Minderwertigkeitsgefühlen vergraben liegt.

Längst hat Ratlosigkeit und Erschöpfung alle Vermittlungsversuche ertränkt – und die Begriffe verwirrt: Umstritten ist weltweit, wer hier die „Terroristen“ sind – und wer die Opfer. Militants – „Kämpfer“ – nennt etwa die sonst so israelnahe große New York Times die in Österreichs Medien ganz anders beschriebenen Krieger der Hamas.

Vieles in diesen Tagen mag neu und jenseits aller gewohnten Dimension sein: Die Feuerkraft und Brutalität der Angreifer. Das Ausmaß ihrer Geiselnahmen in den Grenzdörfern Israels. Auch das Anfangs-Totalversagen des unbesiegbar scheinenden israelischen Militärs – und das Ausmaß der jetzt nachfolgenden Vergeltung unter Gazas Zivilbevölkerung: Nach den Bomben und Raketen hat die totale Abriegelung der Stadt von Lebensmitteln, Medizin, Strom, Wasser und Treibstoff begonnen. Mindestens 1,2 Millionen Menschen des schmalen Landstreifens werden jetzt von der UNO am Leben erhalten werden müssen. Und noch weit mehr Gewalt und Elend drohen.

Zu den dunkelsten Facetten der Nahost-Tragödie gehört es, dass politische Führer – nicht nur in Gaza – ihre Gewalt auch mit religiösen Zielen rechtfertigen dürfen.

Als wiederholter Augenzeuge des Dramas über nahezu 55 Jahre hat die Unversöhnlichkeit zweier Wahrheiten und die Logik des existierenden Wahnsinns wiederholt Einzug in meine FURCHE-Kolumnen gefunden – im (vergeblichen) Versuch, auch jenseits von Gaza, von Israel und Nahost ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu wecken. Und um uns mit einer heiklen Frage zu konfrontieren: Gibt es für so viel Unmenschlichkeit so etwas wie „Schuld“ – und wenn ja, wo? Meine Antwort wäre: Ja, auf allen Seiten – auch bei uns! Denn:

– Vielleicht hat uns die horrende Erb-Last des Holocaust allzu lange verleitet, über Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern lieber zu schweigen.

– Vielleicht haben uns die Aussichtslosigkeit und Entwürdigung von Generationen palästinensischer Menschen zum stillen Verständnis ihrer terroristischen Gewalttaten verleitet.

– Vielleicht hat uns eine globale politische Ermüdung den Aufschrei vergessen lassen, als Israel mit US-Beihilfe den Freibrief zur ungebremsten Siedlungstätigkeit, ja Annexion besetzter Gebiete bekam – in Jerusalem und Westjordanland. Und zum globalen Vergessen der Menschen von Gaza.

– Vielleicht hat gerade im oft zitierten „Heiligen Land“ und in Jerusalem, der „Stadt des Friedens“, dieser gemeinsame Appell der großen Religionen gefehlt: „Es muss endlich Schluss sein, sich bei der Schändung der Menschlichkeit auf den Glauben berufen zu können“. Zu den dunkelsten Facetten der nahöstlichen Tragödie gehört es, dass politische Führungen – nicht nur im Hamas-regierten Gaza – ihre Gewalt auch mit religiösen Zielen rechtfertigen dürfen.

So stehen wir heute vor der Schicksalsfrage, ob inmitten von all dem Wahnsinn nicht nur das Existenzrecht des palästinensischen Volkes, sondern – durch alle erwartbaren Vergeltungsschritte – am Ende auch die gesicherte Solidarität mit Israel und dessen Zukunft bedroht sein könnte.

Der Autor war Journalist, Sprecher der Bundespräsidenten Waldheim und Klestil sowie bis Februar 2023 FURCHE-Herausgeber.

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