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Stürzt Kissinger ins Dilemma?

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US-Politik mit schwindenden Optionen. Eine Annäherung anhand zweier neue Biographien.

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US-Politik mit schwindenden Optionen. Eine Annäherung anhand zweier neue Biographien.

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Steht Kissinger im Nahen Osten vor dem Scherbenhaufen seiner Hoffnungen, seiner Pläne, ja seines Lebenswerkes? Er ist einer jener Staatsmänner, die sich mit ihren Konzeptionen so identifiziert haben, daß sie mit ihnen stehen und fallen. Was aber Kissinger von Beispielen wie Metternich oder Adenauer, die Zeit in Fülle hatten, die Saat reifen zu lassen, tragisch unterscheidet, ist die Kürze der ihm zugemessenen Frist, in der sich erweisen muß, ob er die Dinge wenigstens in der von ihm gewünschten Richtung in Bewegung zu setzen vermag oder ob er abtreten muß, ohne seiner persönlichen Maxime, „etwas zu bewirken, Genüge" geleistet zu haben. Das bewirkt zu haben, was er bewirken wollte.

Kissinger hat einiges bewirkt. Er hat Amerika mit China versöhnt und den Krieg in Vietnam beendet. Aber Kissinger wollte sehr viel mehr. Er wollte in einem großen Geben und Nehmen eine Ordnung herbeiführen oder herbeizuführen helfen, in der die Saturierung der vitalsten Ansprüche aller Partner den Frieden für eine längere Periode sichern sollte. In den ersten Jahren nach dem Eintritt des Harvard-Professors in die politische Arena gelang es ihm, in der Hektik des Reagierens von Fall zu Fall die große Perspektive zu verfolgen, die zu Nixons Reisen nach Peking und Moskau und zu einer Einigung in Vietnam führte, die nicht allen Vorstellungen entsprach, aber jedenfalls besser war als der Krieg.

In den letzten Monaten aber wurden Kissingers Möglichkeiten, jeweils zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen (eine seiner grundlegenden Forderungen an eine erfolgreiche Außenpolitik!), immer geringer. Mehr und mehr gerät Amerika im Nahen Osten in eine Situation, die mit der Vietnam-Verstrickung zwei wesentliche Momente gemeinsam hat: Einerseits die Tendenz, die gesamte außenpolitische Aktivität der Supermächte so zu absorbieren, daß darüber andere weltpolitische Prozesse, zumindest die wünschenswerten, stagnieren anderseits, die Tendenz zu einem immer qualvolleren und unausweichlicheren Festfahren in verhärtenden Positionen.

Kissinger kann sich heute nur eine sehr kleine Chance ausrechnen, über 1976 hinaus Außenminister zu bleiben. Ein so ehrgeiziges, selbstbewußtes, von Eitelkeit keineswegs freies Genie wie Henry Kissinger muß sich seit Monaten fragen, wie es nachher für ihn weitergehen soll. Seine Rückkehr auf den durchaus erstrebenswerten Posten eines Harvard-Professors scheint über jeden Zweifel erhaben, aber ein solider Posten allein hat Kissinger noch nie genügt. Sonst wäre er nicht Sicherheitsberater des Präsidenten geworden. Sonst hätte er nicht seinen Eintritt in die Politik jahrelang systematisch vorbereitet. Wie systematisch Kissinger einen politischen Wirkungskreis angestrebt und seinen Übertritt von der Sphäre theoretischer Reflexion in die der praktischen Aktion vorbereitet hat, geht aus den beiden seit kurzem in deutscher Sprache vorliegenden Biographien, beide „Kissinger“ betitelt (Marvin und Bernard Kalb: „Kissinger — die definitive Biographie“, Ullstein; Stephen Graubard: „Kissinger — Zwischenbilanz einer Karriere“, Hoffmann und Campe), überdeutlich hervor.

In beiden Biographien erscheint Kissinger als ein Mann, dem der Rückzug auf den Campus und ein echtes Sichbescheiden mit dem Lehrstuhl nicht genügen kann. Ein Comeback — etwa nach acht demokratischen Präsidentschaftsjahren? Wie auch immer, als Zwischen- oder Endstation, es ist vorhersehbar, daß Professor Kissinger als Außenminister a. D. die Rolle eines Theoretikers amerikanischer Außenpolitik, eines republikanischen Kritikers demokratischer Außenpolitik und wohl auch eines außenpolitischen Gewissens der Nation spielen wird. Diese Rolle ist ihm als zumindest zweitbeste auf den Leib geschrieben.

Woraus hervorgeht, wieviel für Kissinger davon abhängt, als erfolgreicher Außenminister im richtigen Augenblick von der Bühne abzugehen. Ein Interview, das er James Reston gab und das in der „New York Times“ erschien, läßt an verschiedenen Steilen die Sehnsucht nach einem solchen Abgang ahnen. Es ist ein Gespräch, in dem Kissinger, der als Historiker schon in seinem ersten bedeutenderen Werk die Dimension der Tragik in der Geschichte hervorhob, dunkle Töne anschlug. Die Autoren-Brüder Kalb hörten ihn selbst, als Kissinger Metternich zitierte: „Weil ich weiß, was ich will und wessen die anderen fähig sind, bin ich auf alles vorbereitet.”

Kissingers gegenwärtiges persönliches Dilemma ist zutiefst das Dilemma der amerikanischen Außenpolitik. Die Entwicklung im Nahen Osten, die ihm nicht nur den erhofften glänzenden Abgang verwehrt, sondern ihn auf seinem Sessel festnagelt, bringt Kissinger in genau jene Situation, die zu vermeiden der Theoretiker der Außenpolitik und außenpolitische Denker der republikanischen Opposition einst als eines der wesentlichen Ziele jeder Außenpolitik hervorgehoben hatte.

Von Reston gefragt, was er in den sechs Jahren seiner Amtszeit an den Schalthebeln der amerikanischen Außenpolitik bedauere, nannte Kissinger vor allem die viele auf die Beendigung des Vietnamkriegs verwendete Zeit: „Hätten wir das schneller hinter uns gebracht, hätten wir mit unserer Außenpolitik mehr Positives erreichen können — in einer Zeit, als die Fronten noch nicht so verhärtet waren.“ Das heißt: im Nahen Osten.

Es ist tragisch für Kissinger, tragisch für Amerika und tragisch für die Welt, daß das mit der Anerkennung Arafats als Sprecher der Palästinenser eingetretene Patt ausgerechnet die letzte Phase in der Amtszeit eines amerikanischen Außenministers überschattet und blockiert, der mit der Absicht angetreten war, Amerikas Außenpolitik jenen neuen Ufern entgegenzuführen, die ihr Präsident Kennedy, Kissingers Ansicht zufolge, schuldig geblieben war. Die Massenmedien haben den Architekten der Nixonschen Außenpolitik zu einem genialen Improvisateur, zu einem Tausendsassa der Verhandlungskunst und der Geheimdiplomatie stilisiert. Züge, die in der Konzeption von Außenpolitik, die Kissinger verfolgt, durchaus nicht hervortreten.

Es ist das Verdienst der beiden Kissinger-Bücher, in diesem Augenblick, in dem für den amerikanischen Außenminister so viel auf dem Spiel steht, einem für die westliche Öffentlichkeit einigermaßen neuen Kissinger vorzustellen. Dabei liegt hier alles andere als eine Zweigleisigkeit von Autoren und Verlagen vor. Die beiden gleichnamigen Werke ergänzen vielmehr einander. Die Gebrüder Kalb schrieben eine überaus detailreiche Biographie (das Wort „definitiv“ auf dem Umschlag ist ein Werbe-Unfug) des aktiven Außenpolitikers, die Kissingers Jugend, Studien- und Professorenzeit gerafft wiedergibt und erst mit seinem Eintritt in die Nixon-Administration breit und ausführlich wird. Sie ist vor allem ein unentbehrliches Kompendium des Wie in der Außenpolitik Kissingers, sie macht aber auch deutlich, wie sehr sich Kissinger bemüht hat, in eine Position zu gelangen, wo er Außenpolitik nicht nur kommentieren, sondern gestalten konnte. Mit dem Was und Warum seiner Politik befaßt sich Stephen Graubard, dessen englischer Untertitel ursprünglich präzise „Portrait of a mind“ lautete. Zeitlich endet Graubard im wesentlichen dort, wo Marvin und Bernard Kalb voll einsetzen, und er schreibt nur sehr wenig über Kissinger und dessen Leben. Graubard schrieb ein Buch über Kissingers Bücher und Zeitschriftenaufsätze, zitiert ausführlich und macht das Ausmaß der Kontinuität und des inneren Zusammenhanges zwischen Kissingers theoretischen und historischen Arbeiten, die abseits vom Schauplatz der Macht entstanden, und seinem politischen Wirken deutlich. Jedes dieser beiden Bücher bietet genau das, was das andere schuldig bleibt.

Jeder weiß, daß Kissinger ein Buch über Metternich und Castlereagh geschrieben hat, und deshalb wohl wird er sehr zu Unrecht gerne mit Metternich gleichgesetzt. Tatsächlich lieferte er wohl eine der fundiertesten Analysen, zugleich aber auch eine harte Kritik der Metternichschen Politik, zugleich, und hier darf man sagen: zwischen den Zeilen, aber auch ein Brevier der Weltpolitik im Atomzeitalter. Hier wie in seinem Buch über Strategie in der nuklearen Epoche ist die Schicksalsgöttin Nemesis für Kissinger eine ironische Gottheit, die den Menschen mitunter straft, indem sie seine Wünsche allzu getreu erfüllt. Es war, Kissinger zufolge, Metternichs Erfolg, der zum Mißerfolg, zum schließlichen Untergang Österreichs als europäischer Macht führte: Österreichs innenpolitische Bedürfnisse, sprich die Versteinerung seiner inneren Strukturen, wurden dank Metternichs Geschick für eine längere Periode zum Grundsatz europäischer Politik. Darüber blieben die grundlegenden Probleme des Vielvölkerstaates ungelöst

Kissinger war, als Autor, ein langsamer Schreiber, aber oft ein hervorragender Stilist, fallweise fast ein politischer Epigrammist: Zum Beispiel : „Krieg bedeutet die Unterdrückung aller Nuancen, Frieden ihr Wiederauftauchen.“ Oder: „Staatsmänner kennen die Zukunft, sie fühlen sie in ihren Knochen, aber sie können die Richtigkeit ihrer Erkenntnisse nicht beweisen, Nationen lernen nur durch Erfahrungen und .wissen1 erst, wenn es zu spät zum Handeln ist.“

Richtig "scheint, daß Kissinger seine politischen Anliegen denen der Ära, in der Metternich agierte, verwandt sah. Auch später noch taucht in seinen Arbeiten die Unterscheidung „legitimer“ und „revolutionärer“ Staaten auf, die sich von den „legitimen“ dadurch unterscheiden, daß sie sich nicht an allgemein bindende Grundsätze vom Zusammenleben der Nationen, an Verträge und so weiter gebunden fühlen. Noch in einem Aufsatz des Jahres 1966 unterscheidet Kissinger zwischen „stabilen“ und „revolutionären“ Perioden und sieht eines der Kennzeichen einer stabilen Periode in der Übereinstimmung über die „Spielregeln“. Die traditionelle Diplomatie gestatte einen Dialog zwischen souveränen Staaten gerade deswegen, weil diese Staaten eine gemeinsame Auffassung darüber besäßen, was zulässig und gerecht sei. Dies sei in einer revolutionären Phase nicht der Fall, der Verkehr zwischen den Staaten sei dann schwieriger, und manchmal wisse man nicht einmal, worum es bei einer Meinungsverschiedenheit eigentlich gehe. ,

Kissinger wurde in 15 Jahren, in denen er unablässig publizierte (nur über Johnson fiel ihm nichts ein) und in denen er sich systematisch ein weltweit verzweigtes Netz politischer Persönlichkeiten, mit denen er bekannt oder befreundet war, aufbaute, zum Kritiker der demokratischen Außenpolitik, zum Denker der außenpolitischen Alternativen, zu einem konservativen Theoretiker mit Inspiration, aber auch festen Standpunkten und Bezugssystemen. Während der Kampagne, in der sich

Rockefeller um die Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten bemühte, erarbeitete Kissinger in monatelanger hektischer Arbeit ein außenpolitisches Alternativprogramm, aber was er damals schrieb, wurde von den amerikanischen Journalisten ungelesen abgelegt — nur deshalb, so Graubard, konnte Kissingers außenpolitisches Agieren unter Nixon dann so überraschend wirken. Tatsächlich hielt er sich eng an seine Programme, in denen der Dialog mit China und auch dessen Aufnahme in die UNO angekündigt wurde und wo vor allem weniger von formellen politischen Schritten als vielmehr vom Entwickeln gemeinsamer Interessen die Rede war.

Kissinger, der in den fünfziger Jahren die USA mit der These erschüttert hatte, Frieden an sich sei kein politisches Ziel, sondern nur die Prämie einer richtigen Politik, und die beste Methode, einen Atomkrieg zu vermeiden, sei die Entschlossenheit, einen limitierten Atomkrieg für den äußersten Fall ins Auge zu fassen, war immer der Mann einer beweglichen, aber illusionslosen Außenpolitik mit dem Ziel, „einen moralischen Kodex aufzubauen, der auch eine pluralistische Welt eher kreativ als destruktiv macht“.

Rabat wurde zu einem Schicksalspunkt seiner Karriere. Und des internationalen Systems. Mit der Ernennung Arafats zum Palästinenserchef wurde ein Ereignis gesetzt, das die Optionen aller im Nahen Osten direkt oder als Vermittler engagierten Mächte dramatisch beschnitt.

Der Mann, der immer gewarnt hatte, Hoffnungen auf eine „Verbürgerlichung“ der sowjetischen Politik zu setzen, und der schließlich erkannte, daß Rußland und China sich von „revolutionären“ zu „legitimen“ Mächten zu wandeln begannen, stieß hier, im Nahen Osten, auf eine neue, im Aufstieg begriffene „revolutionäre Macht“. Die Hoffnung, sich mit ihr auf „Spielregeln“ einigen zu können, scheint geringer denn je.

Kissinger warf einst Metternich seine „selbstgefällige Zufriedenheit mit bloßer technischer Virtuosität“ vor, die ihn daran gehindert habe, „zu der tragischen Figur zu werden, die er ansonsten angesichts der Entwicklung, in die er hineingestellt war, geworden wäre“.

Eine tragische Figur zu werden, Größe im Scheitern zu erweisen — diese Chance zumindest hat Kissinger. Noch und leider mehr denn je.

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