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10 Prozent von 63 Millionen.

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„Salve”, respondiere ich. Was hinter den aufblitzenden Brillengläsern des Japaners vor sich geht, errate ich leicht. — So spricht ein Mann, der das spiritistische Spital „Zur kleinen hl. Theresa” in Rio gegründet hat, und auch der Stifter eines riesigen Rubins für die Monstranz des Eucha- ristischen Weltkongresses in Rio de Janeiro ist!

Manoel hat seine Hymne beendet. Ein Trommelwirbel hätte unsere Antwort sein müssen, fortissimo! „66 Millionen Katholiken, nicht wahr?” frage ich.

„70 Millionen laut Schätzung vom August 1961”, bestätigte Senhor Manoel, „davon zirka sieben Millionen andere Bekenntnisse. Die größte katholische Nation auf dieser Erde, schreiben die Zeitungen.”

„Die brasilianischen”, korrigiert der Doktor. „Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Wieviel von den, sagen wir rund 63 Millionen Katholiken praktizieren? Dürfen wir 20 Prozent annehmen? Wenigstens 20?”

„Kaum zehn Prozent”, wende ich ein.

Senhor Manoel erhebt seinen langen Zeigefinger: „Millionen, welche nicht partizipieren, ich meine, nicht die katholischen Sacramentos empfangen, nehmen an irgendeinem anderen Kult teil, ich denke dabei in erster Linie an den Spiritismus, einer Bewegung, der sich vor allem die gebildete Schicht in den lateinamerikanischen Ländern zugewendet hat.”

90 Prozent schlechte Katholiken

Darauf war nichts einzuwenden. Von den 200 und mehr Millionen Katholiken des spanischen und portugiesischen Amerikas sind, wie der brasilianische Philosoph G. Goręao schreibt, 90 Prozent schlechte Katholiken. Taufe — erste hl. Kommunion, vielleicht noch katholische Trauung, am Lebensende ein allerchristlichstes Grabmal, punktum.

Von einer sexuellen Erziehung ist keine Rede. Der gewissenhafte Vater sucht für seinen Sohn zur rechten Zeit eine „Casa”, er kennt Sich aus. Mit 16, 17 Jahren hat sein Sprößling seine „amante”. Wenn 0 Prozent des Volkes geschlechtskrank sind, hat der Vater seine Verantwortung. Im übrigen können die Söhne machen, was sie wollen, wie er selbst macht, was er will. Seine Frau lebt zwischen den vier Wänden seines Hauses, sie wird es nicht wagen, es ohne seine Erlaubnis zu verlassen. Sie könnte schließlich seine Spur entdecken, er liebt nicht häusliche Zwiste. — Religion? Religion muß sein. „Aber zuerst bin ich Mann, versteht sich. Ich wäre ein Dummkopf, wenn ich das Leben nicht genösse. Bin ich einmal ein Greis, werde ich meine Sünden beichten und durch die Barmherzigkeit Gottes in den Himmel kommen.”

Es gibt genug Kritiker, welche die Hauptschuld an der religiösen Not der fehlenden oder falschen Erziehung zuschrieben. „Die sexuelle Besessenheit, vor allem der Jugend aus höheren Ständen, verdirbt uns das Konzept”, klagte einmal ein Jesuitenpater,. Mitschuld hat die Promiskuität der afrikanischen Sklaven auf der Fazenda. Als Rio de Janeiro durch die Aufhebung der Sklaverei den schwarzen Import aus Afrika schließen mußte, blühte bald hernach der Mädchenhandel auf. Die Prostitution ist in Europa eine Begleiterscheinung des Krieges, aber in Südamerika die Frucht der allgemeinen Gesetzlosigkeit.

Sechs Priester für 600.000

Ihr Pegelstand bestimmt auch eindeutig das Verbrechertum, der Schrecken der beiden Millionenstädte Rio und Sao Paulo. Wer hindert das Abgleiten auf den schiefen Weg? Schau in den Eßnapf der Favela-Bewohner, der Armutsviertel, wenn sie abends vor ihren Hütten sitzen. Vielleicht erhaschest du einen Blick in ihre „Wohnung”, und du begreifst alles. In Rio hausen 600.000 Schwarze im Schmutz, indes einen Flintenschuß entfernt sich zwei Doggen auf dem Perserteppich wälzen. Sechs Priester, ich kenne sie persönlich, betreuen die 600.000 Menschen seelsorglich. Der alte Pfarrer von der Pfarrei Cos- mas und Damiao, deutscher Abstammung, Oliveira Krämer, hat ein musterhaftes Sozialwerk für einen der Negerberge geschaffen. Konnte Noah die Sintflut aufhalten? Er konnte sich mit den Seinen in die Arche flüchten. Aber hier fehlen tausend Hände, die für diese Unglücklichen die Arche zimmern, die Kirche Gottes. Kirchen und Kapellen gibt es genug, aber wo sind die Geistlichen mit den Feuerseelen, mit der Spannweite des deutschen oder französischen Klerus? Und nicht einmal genug dieser konservativen, verengten Apologeten gibt es.

Mit solchem Gespräch war der erste Abend rasch vergangen.

Abendliches Gespräch

Die Küste des Klosters „N. S. da Penha” war noch in einen feinen Nebelschleier gehüllt, als wir uns nach dem Abendessen zu den traditionellen tausend Schritten des Verdauungbummels anschickten. Dr. Shigemitsu hielt immer wieder an und schob die Brille zurecht, endlich war der Blick auf das verdämmernde Meer frei. Manoel zündete sich schon die dritte Zigarette an, er weidete sich an unserer Ergriffenheit, ohne selbst ergriffen zu sein. Die Kontinente Afrika, Europa, Nordamerika rückten ganz nahe vor unsere Schranken, wie Angeklagte vor den Richter. Bald wird der runde dicke Mond wieder aus dem Ozean auftauchen. Aus allen Fenstern und Türen wird das Orgelspiel strömen, den Text werden wir drei dazuweben wie gestern abend.

Der Doktor hatte ihn bereits beim Morgenkaffee hrerausgefordert, als er, an unser erstes Gespräch anknüpfend, mahnte, bei unseren Diskussionen nie zu vergessen, daß der amerikanische Südkontinent mit 200 Millionen Bewohnern nur von einem bescheidenen Häuflein christlicher Katholiken besiedelt sei. Nie zu vergessen ferner, daß die allerchristlichste Nation Brasilien zu einer kleinen Schar Katholiken — genau besehen — zusammenschrumpfe. Eine Verleumdung, sie als die größte katholische zu glorifizieren.

Wütend hatte ihn Manoel zu einem Gang auf einen Friedhof in Rio oder Sao Paulo eingeladen. — Danke, muito obligado! hatte Shigemitsu abgelehnt. Die allerchristlichsten Grabsteine machten ihm übel. Auf dem Hundefriedhof von Sao Paulo gebe es übrigens Epitaphien, die ebenso prunkvoll seien, ebenso rührend. „Auf Wiedersehen, süßer Mops!” et cetera. Und rührend, wie die Kreuze alle auf das heilige Kreuz ausgerichtet seien, jenes erhabene Siegeszeichen über dem Grab des Welterlösers unter der Peterskirche in Rom. Manoel schleckte den Honig wohlgefällig ein, auch sein Grab werde dem Brauche folgen.

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