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AAariaseller Bilderbuch

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Dreimal war ich in Mariazell. Einmal in der Kindheit, und da habe ich außer der Erinnerung an eine gewisse Geschmacksempfindung nur das Bild eines grünen Hanges vor mir, der sich so hoch buchtete, daß ich nur in der Ferne darüber die Kirchturmspitze sehen konnte. Dazu die etwas verblaßte Erinnerung an ein dunkles Mädchen, das wir Trude nannten. Alles übrige bleibt versunken. Im heurigen Sommer war ich ein zweites und drittes Mal dort. Beide Male war dein Platz neben mir leer. Man sitzt hinter der herabgezogenen Fensterscheibe, noch ein wenig belästigt von der allzu kühlen Zugluft, dann aber stellt man alles Störende bewußt ab, ist nur noch Auge, Empfindung und Ohr der Welt. Ich bin aus mir hinausgedreht, ungefähr so, wie man ein Fernglas in die möglichste Schärfe dreht,'und da geschieht es, daß ich den Menschen, die vorübergehen, Gedanken ablese, und ich weiß, daß die beiden jungen Leute am Turmfenster oben fühlen, sie sind allein, niemand kann sie belauschen, und das Mädchen spürt den Aufwind im Haar, und sie schauen ins Land. Ein starker Regen fällt, und zwischen den immer wieder einsetzenden Regenfällen eilt eine junge Frau mit einem Brief zum Postkasten. Sie hält ihn wie schützend hoch und in der Nähe des Herzens, wohl ohne es zu wissen. Die kleinen Wasserspeier am Turm speien nicht, aber gerade dieses gleichsam unerfüllt gebliebene Leben der Figuren ist schön. Es donnert, die Wolken ballen sich blaugrau, im Ausschnitt des Fensters ist alles bewegungslos und ohne Licht. In dieser erregenden Stille steht der Dom schiefergrau und mit schönen ungleichen Türmen.

Innen in der Kirche gibt es einen Marmorsockel für Kerzenöpfer. Das Wachs rinnt über den Opfertisch und tropft auf das Fußende, und sogar dorthin stellen die Leute ihre Kerzen. Ein Kirchendiener kommt heran und entfernt die unteren Kerzen, als ob er in einem Garten Unkraut jätete, mit den hastigen und unwilligen Bewegungen von Menschen, die eine fruchtlose Arbeit verrichten müssen, die ihnen täglich wieder und wieder durch Unverstand oder Eigensinn anderer gegeben wird. Da ist eine brennende Kerze neben der andern — aber ich bin nicht beteiligt. Wo bleibt das Hingerissensein, die Traurigkeit, die mich faßt, wenn ich Opferkerzen abbrennen sehe. Es mag der vielbeschäftigte Kirchendiener schuld daran sein Auch die übrige Kirche ist nur Stein und Silber, kühl wehender Raum und ein allzuviel an Prunk. Aber, hier haben Menschen geopfert, Kerzen, Silber und eine Menge Gold, hier haben sie Gelöbnisse getan und eingelöst, hier ist ihnen die Ohnmacht menschlichen Geistes wieder ins Bewußtsein gekommen. In de Gängen auf der Galerie sind die Wände behangen mit Bildern, Andenken und Briefen, Danksagungen und Anliegen in bittenden, flehenden und sehr gläubigen Worten. Von einer Bank aus sieht man, wie sich der Organist zum Spielen bereitet. Dann brausen die Klänge, und die Augen gehen von selber zu. Wenn man aufblickt, sieht man den Erzeuger der Töne wie einen kleinen Magier mit seltsam hüpfenden Bewegungen die Orgel bedienen. Passen seine unruhigen, auf dem Instrument auf und ab turnenden Beine wirklich zu dem wogenden Aufschwung, der durch die weite Kirche geht? Stellt man sich nicht vielmehr ein gelassen gebeugtes Haupt oder einen glühenden Engel vor, der das Instrument ohne Körperlichkeit beherrscht? Wie böse, wie untief, wie sentimental und wie genußsüchtig sind wir geworden. Am selben Abend sagt meine Mutter zu mir: Eigentlich sollte man den Organisten beim Spiel nicht sehen.

Als ich die Kirche schon verlassen hatte, fiel mir ein, daß ich die Gelegenheit, einen Wunsch erfüllt zu bekommen, vertan hatte. Wer zum erstenmal eine Gnadenkirche betritt, so sagte mir meine Mutter, und dort um die Erfüllung eines Wunsches bittet, wird Erhörung finden, wenn er sich nicht umwendet, solange er vor dem Hauptaltar steht. Was hätte ich mir auch wünschen sollen? Und kommen nicht alle oder fast alle Erfüllungen zu spät oder zu früh? Ob ich es nun wollte oder nicht, und ob ich diesen oder jenen Wunsch geäußert haben mag, etwas zwang mich plötzlich zum Umkehren.

Draußen hatten sich einige Wallfahrer versammelt, und wie sie jetzt einzeln oder zu zweien zum Kirchentor schritten, fiel mir ein zwerghaftes ältliches Mädchen unter ihnen auf, und es hatte auch noch irgendeine Verletzung am Auge und an der Hand. Es faßte midi ein großes Mitgefühl mit diesem Wesen, das so umherging und immer hinaufschauen mußte und immer ohne Hoffnung war. Sagt nicht, diese Menschen kommen darüber hinweg! Ich weiß es: diese Menschen leiden mit einer dumpfen bitteren Qual, jede Stunde ihres Lebens.

Ueber den Buden, die den Kirchenplatz in einem Halbkreis zur Hauptstraße umgeben, steht in altmodisch gemalten Buchstaben: Gold und Silber — Gold und Silber — Jakob Sorger. Schaut man ins Innere der Buden, so eilen die alten und uralten Weiblein mit einer Wendigkeit ans Pult, als hätte man sie zauberkräftig angerufen. Der staunende Blick geht über alle die vielen kleinen und großen Dinge: mit eifrigem Anbieten sind sie zur Stelle, sie rühmen ihre Ware, lassen ganze Sturzbäche von Namen niedergehen, die es für ihre Güter gibt; und das alles in einer geschäftigen, aber schmeichelnden Art, daß man unbewußt einen Schritt zurücktritt und sich denkt: Aber ich will doch nur schauen, in aller Ruhe, alle die Dinge anschauen, die da hängen und liegen und sitzen und wie Fransen von der Stirnseite der Bude baumeln und sich drehen im Wind. Es ist da ein Zauber, ein nicht zu fassender Zauber, der wohl bei und allen in die Kinderzeit reicht. Was nimmt uns denn so gefangen; was ist es denn, das uns wieder beharrlich im Schauen macht, wie es Kinder sind, daß wir stehenbleiben und nicht loskommen von einer Romantik aus Wellpapier und süßem Teig, für die wir uns ein paar Augenblicke lang nicht schämen.

Auf der Heimfahrt geht mein Blut auf und ab im Fieber. Wie ein Lied, das aus den Bewegungen der Maschine, dem Donnern der Geleise, der Dunkelheit der zahlreichen Tunnels gemacht ist, höre ich es “in sinnlosen Worten auf mich zukommen: Es reift das Korn am Senegal, am Senegal, es reift das Korn am Senegal, am Senegal ... und auf und nieder wechseln Glut und Eiskälte. Plötzlich stehen alle Eindrücke mit einer wasserhellen Klarheit vor mir, wie Berge am Morgen, bevor es zu regnen beginnt.

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