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Alles Elend der ßeladenen

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Literarisch und anspruchsvoll begann die Saison. Als erste meldeten sich mit vielen falschen Tönen die Kammerspiele mit der für die Verhältnisse eines Amüsiertheaters immerhin ernsthaften Satire „Moral“ von Ludwig Thoma, tags darauf folgte in der Josef Stadt das „Nachtasyl“, Maxim G o r k i s Szenen aus der Tiefe, den eindruckvollsten Beitrag aber lieferte das Volkstheater mit Jean Paul S a r t r e s komplexen Problemstück über die Kollektivschuld eines Jahrhunderts, über die unbe-wältigte Vergangenheit und kaum zu bewältigenden Gegenwart, über Politik und Mystik: „Die Eingeschlossenen.“ Deutsche Mystik aus der Feder eines Franzosen, französischer Intellekt vor dämonisch deutschem Hintergrund: Ein philosophisches, metaphernreiches Schicksalsdrama, aufgerollt auf einem Altonaer Dachboden, vier Stunden lang abgehandelt an dem beispiellosen Beispiel eines Hamburger Patriziersohnes, der, im Krieg schuldig geworden, dreizehn Jahre lang als eine Art lebender Leichnam einen latenten Freitod lebt. Halb irr, umgeben von einem selbstgewählten Irrsinn, halb überbewußt und zynisch, verzweifelt und am Universum zweifelnd, sucht er vergeblich nach seiner Lösung. Er selbst zwar findet sie, höchst zweifelhaft, indem er sich zu guter Letzt dem physischen Tod und der Erlösung vor seinen Dämonen ausliefert, allein damit ist es nicht getan, das Gefängnis im Patrizierhaus von Altona bleibt weiterhin bevölkert, während unten das Geschäft floriert...

Aladar Kunrad spielt den desolaten Helden, Otto W ö g e r e r seinen nicht minder schuldigunschuldigen Vater, Edd S t a w j a n i k und Julia Gschnitzer die Geschwister und Traute Wass-ler die Schwägerin: ein vortreffliches Ensemble in einer dichten, packenden und erfolggekrönten Inszenierung Professor Leon E p p s. — Ein vielversprechender Beginn.

Rußlands Dämonie sucht das Theater in der Josefstadt zu bewältigen. Gorkis verzweiflungsvoller Abschaum, Mütterchen Rußlands Bodensatz wälzt sich über die Bühne, alles, was das Zarenreich an Jammer aufzubieten hatte, alle Bitternis, alle Gebrechen, alle Laster dieser Welt. Der nackte Mensch, die hilflose Kreatur, die entblößte Seele auf der Suche nach einem besseren Gewände und nach der Wahrheit. Der Mensch in Gestalt des Mörders, des Zuhälters und Säufers, des naiv-gläubigen Wanderers in den Niederungen des Elends, des Wucherers und des gequälten Mädchens. Der Mensch, durch Alkohol verdünnt, von der Hoffnunglosigkeit entstellt: in siebzehnfacher Ausführung bevölkert er dies „Nachtasyl“. Und dennoch finden wir ihn nur andeutungsweise: Josefstädter Schauspieler allenthalben, in Lumpen gehüllt und in respektabler Darstellung des Elends, inmitten einer schönen, jedoch an Dimensionen nicht eben reichen Inszenierung Heinrich Schnitzlers. Sie alle tun ihr Bestes und geben ihr Möglichstes, die Szenen aus der Tiefe, die Gestalten aus der Tiefe werden bis zur Selbstentäußerung demonstriert, doch eben nur demonstriert, gespielt, bewundernswert — aber wenig überzeugend. Kein Abgrund tut sich auf, nur ein Pfuhl, keine Atmosphäre, vorwiegend Milieu, kein Schauer, bloß Anschauungsbilder.

Kurt H e i n t e 1 s Wasska Peppel kommt gemeinsam mit Walter K o h u t als Kleschtsch, Gretl E1 b in der Rolle der sterbenden Anna und Georg Bucher der Figur am allernächsten, Bruno Dal-landky (Bubnow), Guido Wieland (Kostylew), Erik Frey und Elfriede Ott haben schöne Augenblicke. Ferner wirken mit: Leopold Rudolf, Sigrid Marquardt, Hans Jaray, Jochen Brockmann, Marion Degler, Kurt Jaggberg, Martin Costa, Klaus Löwitsch. — Ein zu schwieriger Beginn.

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