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An der Orene des Traumreiclies

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Venedig

Venedig ..., märchenversponnene Königin der Adria..., welche Stadt wäre phantastischer, unwirklicher, und somit als Ueber-gang ins Traumreich besser geeignet? Rein äußerlich — wer kennt sich dort aus? Ich, der ich in Venedig einige Jahre das Gymnasium besucht habe (oder das, was man dort für ein Gymnasium zu halten geneigt ist), habe zum väterlichen Palazzo, der keine drei Minuten vom Markusplatz entfernt lag, oft nur mit Mühe und nach stundenlangem Suchen heimgefunden. Wie oft erschien ein Professor nicht zum Unterricht, weil er sich verlaufen hatte! Wie oft traf ich meine Mutter mit einer irre blickenden Magd — sie hatten beim Einkaufen den Weg verloren! Oder ich sah irgendwo meinen Vater stehen, düster zu Boden blickend, am ergrauten Schnurrbart kauend und bisweilen heftig den Stock gegen das Pflaster stoßend. „Geh nur nach Hause, mein Kind“, pflegte er auf meine besorgten Erkundigungen zu antworten. „Grüße Mama von mir, und sie möchte die Suppe auftragen lassen. Ich komme in längstens fünf Minuten.“ Aber nicht selten war es Abend, ja tiefe Nacht, ehe der übermüdete I “ann sich zur Mittagstafel setzen konnte.

Ein sonderbarer Komplex verbietet nämlich jedem auch nur vorübergehend in Venedig Seßhaften, nach dem Weg zu fragen oder gar sich führen zu lassen. Es würde auch gar nichts nützen. Immer wieder habe ich selbst Eingeborene wehklagend vor Madonnenbildern knien sehen, sogar Briefträger und Polizisten oder städtische Ingenieure mit Meßlatten. Falsche Scham verbot diesen Unglücklichen, Auskünfte über den Weg einzuholen. Sie wandten sich lieber an die höheren Mächte. Ich konnte auch feststellen, daß man in Venedig — außer den im Preis herabgesetzten, weil fehlerhaften Kursbüchern, die in ganz Italien erhältlich sind — um ein wahres Spottgeld falsche Stadtpläne kaufen kann. Es ist ja doch alleseins. Sogar alte Schnittmuster werden geistlos kopiert, in Stücke zerschnitten, und

dem naiven Reisenden als Stadtpläne aufgeschwatzt.

Damit ist endlich auch eine Erklärung für das auffallend rege Straßenleben dieser im Grunde wenig bevölkerten Stadt gefunden: es kommt von den vielen Verirrten.

Tarockanien

... Man muß sich stets vor Augen halten, daß die Welt dem Phänomen Oesterreich mit unerhörter Interesselosigkeit, ja mit beklagenswertem Unwissen gegenübersteht. Sie weiß gerade soviel, wie die (meistens auch noch im Ausland verlegten) Reisehandbücher über die paar gängigen Touristenrouten an Falschem aussagen. Nicht geringe Schuld daran trägt das klägliche Versagen der internationalen Fahrplankonferenzen, die es zustande bringen, daß bedeutende Schnellzugslinien, deren Expresse unter Pomp, Gestank und Donner von irgendeiner Grenzstation abgelassen werden, im Innern Oesterreichs nach kurzer Frist spurlos versiegen, nachdem sie vorher durch einen rätselhaften Abschup-pungsprozeß den Speisewagen verloren haben. Gewöhnlich geschieht das in der Gegend von Leoben, diesem Gewitterwinkel des europäischen Reiseverkehrs. „Leoben ... ja, Leoben! Ein Zug, der was da drüber kommt — der is aus'm Wasser!' So lautet die ständige Redensart der großen österreichischen Eisenbahnfachleute (indessen das Interesse der übrigen Chargen am Bahnbetrieb hauptsächlich darin besteht, mit Kind und Kegel, umsonst oder um hohnvoll kleine Beträge, möglichst oft in der Luxusklasse der Netze spazieren zu fahren). Mehr als einmal habe ich es erlebt, daß alte, erfahrene Stationschefs einem aus Leoben ausfahrenden Expreß lange kopfschüttelnd nachschauen, wobei sie wohl auch ein kaum hörbares „Wieder einer . .. !“ vor sich hinmurmeln. Dann gehen sie ins Dienstzimmer zurück, stellen die Telegraphenleitung ab, werfen sich seufzend aufs schwarzlederne Sofa und stöhnen noch lange: „Jo . .. jojo . . . jo . . .“, ehe sie in traumgequälten Schlummer versinken.

Aus dem Roman „Maskenspiel der Genien“.

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