6571535-1950_22_10.jpg
Digital In Arbeit

Ansicht von Kopenhagen

Werbung
Werbung
Werbung

Als kleiner Junge kam ich in die große Stadt Kopenhagen. Der Waggon fuhr auf ein Schiff, und das Schiff fuhr übers neblige Wasser. Im Hafen stand der riesengroße Schatten eines englischen Kreuzers, und daneben die russische Kaiserjacht „Polarstern“. Darum war die Stadt voll von Matrosen; Arm in Arm zogen immer je ein baumlanger Russe und ein ganz kleiner Engländer auf Abenteuer — der große und der kleine Klaus. Auch sonst war die Stadt märchenhaft: alle Viertelstunden erklang ein Glockenspiel, als ob das Ganze eine Spieldose sei. Eigentlich hätten ia dann alle stehenbleiben müssen, ohne Bewegung; aber das ging nicht, weil sie durchweg auf Fahrrädern rollten — Wickel-kinder im Körbchen, Laufjungen, Damen und auch der König selbst. Der Königspalast hatte viele hundert Fenster, und ich fragte mich, in welchem Zimmer wohl die Prinzessin auf der Erbse geschlafen hatte. Davor aber stand ein Posten, der hielt die9Beine so eng zusammen, als ob er nur ein Bein hätte — stolz und unbeweglich wie der standhafte Zinnsoldat. Eben deshalb wurden von mir auch die Rinnsteine der Stadt Kopenhagen genauestens inspiziert, denn es konnte ja jeder der gewesen sein mit dem Papierboot und der Ratte hinterher: „Fahre hin, o Kriegesmann, den Tod mußt du erleiden.“ Die kleinen Jungen dieser Stadt hatten weiße Augenwimpern, und einer, der an der Straßenecke einen Pfirsich aß, konnte ganz gut „Hjalmar“ heißen. Ich wollte schon auf ihn zugehen, allein „Hjalmar“ streckte mir die Zunge heraus; doch das machte nichts. Aber wie wurde mir, als ich auf einem Straßenschildchen „Oestergade“ geschrieben fand! Das war ja doch die Straße, dieselbe Straße aus den „Galoschen des Glücks“, wo der Justizrat plötzlich im Mittelalter steht, ganz im Dunkeln, und der Bischof von Seeland reitet mit Fackeln und Trommeln und Pfeifen vorüber... Oh, die Stadt Kopenhagen war voll von Entdeckungen! Historischer Boden. Und als es nun gar regnete, da überrieselte es mich. Denn wenn man einen Regentropfen in Kopenhagen unter dem Vergrößerungsglas beguckt, dann ist dort wieder ein ganzes Kopenhagen darin, wimmelnd von Offizieren, Dienstmädchen und Schornsteinfegern ...

Am schönsten aber war das Automatenbüfett. Hier hatte man ein zweifelloses

Märchen aus lauter Helligkeit, Glas und weißen Kacheln. Da war alles, was du haben willst, Lachs und Koteletten und Butterbrote, aber alles hinter Glas. Dann wirfst du in den Schlitz das hinein, was er verlancit: 25 Oere 50 Oere, eine r

Krone — und so wie das Geld im Kasten klingt, setzt sich die Glasschublade in Bewegung und fährt auf dich zu. Dann nimmst du die Gabe der Geisterwelt in Empfang, und schon zieht sich die Glasschublade von selbst wieder ein und schnappt zu. Und auch du schnappst zu auf das Butterbrot.

In diesem Automatenbüfett hatte ich eine besondere Schublade ins Auge gefaßt. Denn sie zeigte hinter Glas einen riesigen roten Hummer mit Scheren wie ein Schiffshebekran. Neben dem Geldschlitz hieß es kurz und abweisend: „3 Kronor.“ Lange hatte ich ihn ins Auge gefaßt und mir drei Kronen bis zum Ende aufgespart; dieses Dreikronenstück, das war mein Hummer, das gab ich nicht aus.

Und nun, eine Stunde vor der Abfahrt (ich war heimlich ausgekniffen), betrat ich den Raum mit diesen letzten drei Kronen in der Faust. Er war ganz leer; von allen Spiegeln wurde ich gespiegelt. Jetzt drückte ich das Geldstück noch warm in den Schlitz: lautlos setzte sich die Schublade in Bewegung und fuhr auf mich zu mit dem roten Hummer. Nein, wie er aussah — so merkwürdig hatte ich ihn mir gar nicht vorgestellt: zwei Augen ' auf Zinnoberstangen wie ein Unterseeboot, und die vielen Purpurgelenke, immer ein Panzer in den anderen gesteckt, und die mächtigen Scharlachscharniere des Schwanzes, der unten selber noch kleine Greifarme hatte! Starr stand ich da, versunken in den Anblick dieses Ungetüms — das war ja noch herrlicher als das Automatenbüfett, das war ja ein Stück aus dem Palast des Meerkönigs!

Und wie ich so stand und sah, sah ich gar nicht, wie die Glasschublade bereits anfing, leise wieder rückwärts zu gehen. Und als ich in meinem Entzücken noch schnell seine Füße zählte, da machte es „schnapp“, und der Hummer war plötzlich wieder hinter Glas. Mein Hummer! Ich klopfte an die Glasscheibe, doch er verhielt sich stumm und unbeweglich. Nur neben dem Schlitz sprach das Schildchen: „3 Kronor.“ Ich rief nach dienstbaren Geistern, aber der Raum war leer. Da konnte man Lachs haben und Koteletten und alles, was man wollte: bloß das Geld mußte man einwerfen. Ich schluchzte, aber die Geisterwelt verhielt sich still; von allen Spiegeln wurde ich gespiegelt. Da lief ich schnell nach Hause, denn es war Zeit zur Abfahrt.

Erzählt habe ich niemand davon. Es war mein Geheimnis mit der geheimnisvollen Stadt Kopenhagen. Wieder fuhr der Waggon auf ein Schiff und das Schiff fuhr übers neblige Wasser. Aber noch heute träume ich manchmal nachts, wie eine Glasschublade mit einem roten Hummer langsam auf mich zukommt, und dann, wie ich nach ihm greifen will, sich leise „schnapp“ wieder zuzieht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung