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Das Haus der Tore

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Eine Gruppe rundrückig freundlicher Hügel trennt, vorgelagert den Galileischen Bergen, die Ebene von Akko von dem weiten Tal Jezreel. Nördlich und südiieh die Hügel umgehend, stoßen hier zwei uralte Heerstraßen in spitzem Winkel zusammen; die Straße vom Jordan, welche die Höhenstraße von Nablus und die Küstenstraße aufgenommen hat, und die Nordstraße, in welche die Straßen von Akko und Nazareth münden. Diesen Kreuzweg beherrschte in alter Zeit ein Städtchen, welches zu Beginn unserer Zeitrechnung „Besara“, später „Beth Shearim“ hieß.

Ein Fahrweg führt von der Straße in die Hügel und schlängelt sich durch Olivenhaine, die immer wieder den Blick auf ferne Berge, auf blanke, junge Dörfer und die riesigen Rechtecke des Felderteppichs im Talgrund freigeben. Er leitet endlich zur Höhe, deren drei Gipfelkuppen abwechslungsreich gekrönt sind: die nächste trägt eine Art Miniaturritterburg, um deren Zinnenfirste sich Wirtschaftsschuppen drängen. Auf der zweiten wölben sich die flachen Kuppeln des Grabes eines arabischen Heiligen, jenes Schech Abrek (vermutlich Barak des Richterbuches), der die verschollene Heiligkeit des Ortes durch die Jahrhunderte hütete. Auf der dritten Kuppe überrascht der Anblick des einen und einzigen Reiterstandbildes in Palästina.

Auch aus der Entfernung ist unverkennbar, daß der Reiter nicht in der üblichen Feldherrnpose dargestellt ist. Das Auge mit der Rechten beschattend späht er ins Land. Alexander Zaid, dem dieses Denkmal gilt, war stolz darauf, ein Wächter zu sein. Sibirier, seit 1904 im Lande, war er schon zu Lebzeiten eine fast mythische Gestalt, mit allen Kämpfen dieser Jahrzehnte verknüpft. Als Förster des Jüdischen Nationalfonds siedelte er 1936 auf dem Hügel von Schech Abrek und wurde hier zwei Jahre später aus dem Hinterhalt erschossen. Alexander Zaid erbaute das feste Haus auf dem Hügel von Schech Abrek. Er war es, der die Archäologen auf die Fährte der verschollenen Stadt Beth Shearim brachte.

Den sicheren Blick des geborenen Archäologen hat Alexander Zaid. bewiesen, indem er die Akropolis von Beth Shearim als Bauplatz seines Hauses wählte. Seine Witwe Zippora erzählt oft, wie sie für ihren ersten Waschtag im neuen Land eine Feuergrube graben wollte. Alexander nahm ihr den Spaten aus der Hand und sagte: „Hier muß man vorsichtig graben, du kannst auch auf das Mosaik einer Synagoge stoßen.“ — Nach wenigen Minuten kam ein Mosaik zum Vorschein. Alexander Zaid hatte Beth Shearim wirklich entdeckt, genau dort, wo er es ahnte...

Die Ausgrabung von Beth Shearim ist längst nicht vollendet, aber es gehört wenig Phantasie dazu, um sich vorzustellen, wie es einst auf diesem Hügel aussah. Ähnlich, aber größer als die berühmte Synagoge von Kapernaum ragte die dreischiffige Synagoge, Sitzungssaal des Synhedrions und Gerichtshalle, über dem Städtchen, das die Hänge des Hügels emporkletterte. Es scheint, daß die alten Weisen es liebten, weit ins Land zu schauen, wenn sie von ihren Rollen und Folianten aufblickten. Wie Jabne, der erste Sitz des Synhedrions in den Tagen des großen Jchanaan ben Sakkai, liegt auch Beth Shearim, die Residenz des weisen Rabbi Jehuda, der die „Mischna“, die Sammlung der Erläuterungen biblischer Gesetzgebung, beendete, auf einem Gipfel im Hügelland. Wie Jabne, das einst der Tochter des Augustus gehörte, ist auch Beth Shearim als Besitz einer schönen Frau zum erstenmal erwähnt. Zur Zeit der Zerstörung des zweiten Tempels war es eine Domäne der Berenice, Schwester des letzten Judenkönigs und Königin von Chalkis, der Frau, die fast neben Titus den Thron der Imperatoren bestiegen hätte. Aus jener Zeit ist wenig erhalten oder aufgedeckt. Die Ruinen von Beth Shearim gehören dem zweiten und dritten Jahrhundert an, der Zeit, da der kulturelle Schwerpunkt des jüdischen Volkes in den Norden Palästinas verlegt war, weil der Zusammenbruch von Bar Kochbas Revolte Judäa verschlossen hatte.

Das Haus Alexander Zaids liegt inmitten der Ruinen. Das Pflaster des alten Hauptplatzes liegt vor seiner Tür. Die Pfeiler der Synagoge ragen in seinen Hof. Kapitale und reichgezierte Architekturteile sind ringsumher aufgehäuft. Hühner wandern durch tausendjährige Leitungsrohre. Die Schuppen und Ställe des Farmhofes umschließen die aufgedeckten Ruinen des alten Städtchens. Diese fröhliche und irgendwie harmonische Mischung von uralt und ganz jung macht die Hügelkuppe von Beth Shearim unvergeßlich. Wenn das saftige Grün des Frühlings die alten Quadermauern und die neuen Betonmauern gleich innig umrahmt, sieht es hier aus wie auf einem Gutshof der römischen Campagna.

Das monumentale dreifache Tor der Synagoge, dessen reichprofilierte Bogen-steine ausgegraben wurden, muß einst den Hauptplatz von Beth Shearim beherrscht haben. Vielleicht wurde nach diesen Toren, durch die man einst das geistige und weltliche Zentrum der Judenheit, den Sitz des großen Synhedrions, betrat, das Städtchen „Beth Shearim“ genannt, das „Haus der Tor“.

Unser junger Führer ist der echte Cicerone für diese Stätte. Er ist ein junger Dichter, teilhaftig der Vision, die das Erbe Alexander Zaids ist, der großen Synthese von alt und neu. Er führt uns zu dem Denkmal hinüber, das die Gruft des Mannes krönt, der vielen jungen Menschen Lebensrichtung gegeben hat. Jenseits der Straße, auf einer nördlidien Hügelkuppe, weist er auf die weitverstreuten Schieferdächer einer großen Siedlung. Das ist Alo-nim, das Eichendorf, gegründet von jungen Menschen, die Schüler Alexander Zaids waren. Sie lebten zuerst mit ihm auf dem Hügel von Beth Shearim und wanderten hinüber, als sie zu viele für den alten Platz geworden waren. Man muß an „Ver-sacrum“ der Römer denken ...

Heute zählt Alonim zweihundert Menschen, die aus aller Herren Ländern kommen und zahlreiche Palästinenser in ihrer Mitte haben. Sie züchten Obst und Gemüse für den Markt von Haifa, Sie treiben Milchwirtschaft und sie besitzen eine große elektrische Tischlerei. Ihre Herden weiden weithin über die Hügel. Sie sind Hirten wie Zaid, der immer wieder das Amt des Wächters mit dem Hirtenamt zu vereinen liebte. Es war auf nächtlichem Ritt zur Ratsversammlung in der Tochtersiedlung, daß Zaid aus dem Hinterhalt erschossen wurde.

Der Südhang des Hügels von Beth Shearim ist von natürlichen Felsklüften durchzogen In diesen düsteren Felsspalten, die sich unvermittelt im Ackerland öffnen, wurde die einzigartige Totenstadt von Beth Shearim entdeckt. Sie ist viel größer, als der Umfang des Städtchens erwarten ließ. Diese Nekropole diente in der späten Römerzeit, da der ölberg vor den Toren des • zur „Aelia Capitolina“ gewordenen Jerusalem Juden verschlossen war, bevorzugten Frommen des Ostens als letzte Ruhestätte. Grabinschriften erzählen von Juden aus Palmyra und Yemen, vom Euphrat und vom Nil. Von den fernsten Grenzen der Römer und Parther pilgerten Greise nach Beth Shearim, brachten Karawanen in monatelanger Wanderung kleine Kisten mit den Gebeinen, die in der Heimat, inmitten der Großen des Volkes, bestattet werden sollten.

Schmale Trittsteine sind aus dem Fels der Klüfte gehauen und führen hinauf zu den Eingängen der Katakomben, die in regellosen Stockwerken über die düsteren Felswände verstreut sind. In viereckigen Öffnungen hängen noch immer die antiken Steintüren in Angeln, die sich in lebendem Fels drehen.

Es ist ein Erlebnis, auf dem Boden einer dieser Klüfte zu stehen, zu den vielen geschlossenen oder halb offenen Steintüren ringsum in den glatten Wänden aufzuschauen. Oft sind Namen in griechischen oder hebräischen Lettern eingeritzt. Manchmal ist eine helle Marmortafel mit dem Namen des Toten dem dunklen Felsen eingelassen. Man hat nicht den Eindruck, inmitten von Gräbern zu sein. Die Nekropole von Beth Shearim ist eher eine Stadt, in der die Toten wohnen. Vielleicht hieß Beth Shearim nach diesen hundert Steintüren, die sich hinter den Großen des jüdischen Volkes sdilossen, das „Haus der Tore“.

Etwa ein Dutzend dieser Katakomben ist bisher untersucht. Jede enthält eine Flucht von Räumen, die in runden, monumentalen Formen aus dem weichen Kalkstein geschnitten sind. Von zentralen Zellen öffnen sich säulengetragene Gewölbe zu Grabkammern, deren Grüfte unter Bogen liegen. Unverwischt leuchten die Rötelinschriften an den hellen Wänden, die eine Fülle von Reliefschmuck ziert. Da gibt es Tiere und Pflanzen, Schiffe und Boote, Leuchterträger und Löwen, geometrische Ornamente in reicher Vielfalt und vor allem die Abzeichen des Priestertums. Am zahlreichsten ist der siebenarmige Leuchter vertreten, Symbol des ewigen Lichtes, das auch der Tod nicht verlöschen kann.

Der Schmuck einzelner Räume zeigt von der Exaktheit geübter Steinmetze. Es gibt ein Mausoleum mit prächtigem Mosaik und monumentaler Eingangshalle. Es gibt geschmückte Gräber, deren Inschriften in homerischen Hexametern gehalten sind. Aber dieser Aufwand wirkt kalt gegenüber der rührenden Unbeholfenheit, mit der die meisten Grüfte geschmückt sind. Mit kindlicher Einfachheit sind da die Bilder aus dem Fels geschnitzt, mit Rötel auf seine helle Oberfläche gekritzelt. Denen, die diese verbogenen Leuchter einritzten, diese unregelmäßigen Ornamente malten, galt der Tote in der bescheidenen Gruft gewiß viel mehr als jenen Handwerkern, die auf Bestellung ein Mausoleum im hellenistischen Provinzstil dekorierten,.

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