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Der Lawinengang

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Thomas, der junge Sohn des Talbauern, erhob sich nach einer Nacht voll unruhigen Sdilafs leise ächzend von seinem harten Lager. Langsam fand er sich in der Dunkelheit zurecht und entsann sich, daß er seine erste Nacht hoch heroben im Gebirg in der Holzknechthütte des Vaters durchschlafen hatte.

Als er das Brett vor dem Fensterloch in der rauhen Bohlenwand zurückschob, fühlte er, daß die Luft wärmer als am Abend in den dunklen Raum der Hütte fiel. Da fuhr er hellwach empor.

„Bist auch schon munter, Bub?“ fiel da eine Stimme durch das Düster von der gegenüberliegenden Wandseite. „Es ist Zeit, daß wir die Holzfuhr fertigmachen.“

Indes Thomas am offenen Herd das Feuer anfachte, stieß Peter, der alte Knecht, die Hüttentür auf. Er stapfte durch den tiefen Schnee um die Hütte. Durch die hohen Bäume fiel ein einförmiges Windheulen, und als der Knecht mit der Hand über einen angewehten Stamm fuhr, glänzte diese feucht von Wassertropfen.

„Sakra, der Föhn ist da“, entfuhr ihm ein kurzer Ausruf.

„Hast das Wummern in der Nacht gehört?“ fragte er seinen jungen Gefährten, als sie um die Morgensuppe saßen.

Thomas nickte. „Drinnen im Kessel müssen Lawinen abgangen sein.“

Dem Alten lag eine Entgegnung auf der Zunge, aber er verschwieg sie. Alles mußte ja der Bub nicht wissen. Etwa daß auch unterhalb der Hütte manchmal eine Lahn über den Holzfahrweg gezischt war, leise wie eine Schlange, aber darum nicht weniger gefährlich.

Er erhob sich langsam, schob sich die Haube über die Ohren und schloff in die Handschuhe. Als sie vor dem Blochschlitten standen, wußte Thomas, was ihn in der Nacht nicht hatte schlafen lassen. „Laß mich abfahren, Peter!“ sagte er und fühlte mit einem Male sein Herz klopfen.

Peter hatte das Wort erwartet. „Holzabziehen ist kein Kinderspiel, Bub. Drunten im Gewänd ist ein Lawinengang. Wenn schon einer hindurch muß, so will ich es sein! Was möchte dein Vater daheim sagen, wenn ich übrig bliebe und nicht du!“

Thomas fuhr es rot über das Gesicht. „Ich habe keine Furcht!“

„Aber fahren kann nur einer!“ Und da für den Alten die Sache kein weiteres Wort mehr wert war, stieg er auf die Schlittenkufen und faßte mit den Händen die Bremstatzen. „Und jetzt schieb an!“

Thomas tat es wortlos. Als die Fuhre mit den Stämmen langsam ins Gleiten kam, verfolgte er aufgestörten Herzens im Geist den Lauf der Fahrt — durch das steile Hochgehölz — über die untere Alm hinaus durch die trockene Schlucht, bis zu der der hohe Waldschlag hinabreichte.

Der Waldschlag — plötzlich überfiel ihn ein heißer Gedanke! Einige Schritte unterhalb der Hütte konnte er über ihn hinabsehen auf die trockene Schlucht, wo Peter hindurch mußte.

Thomas starrte hinab. Dort unten lag der Hang mit den senkrechten Abbruchen. An ihrem Gewänd fehlte der Schnee — sogar über dem Fahrweg lag ein Streifen blank, und tiefer unten über den jähen Abbruch, wo die gepölzte Brücke die Wand querte — da — da fehlte auch diese!

Himmel, der Lawinengang hatte sie weggerissen! Dort mußte Peter hinüber — die Flucht von Wandabstürzen lag darunter, drohend und stumm.

Wo fuhr der Alte schon? Den holte er nimmer ein. Da half nur der steile Waldschlag. Mit zwei Griffen riß er die Skier aus der Hütte und stieß die Schuhe in die Bindung. Bis die letzten Hochstämme vorbeihuschten, war er schon in jäher Fahrt. Unvermittelt tat sich die Tiefe auf, daß es einen Augenblick sein Herz zusammenzog. Da war noch keiner auf Skiern hinabgesaust! Heroben war der Schnee noch gut — wie im Sturm sog ihn der Hang hinein. Allmählich hatte er das Gefühl, als schwebte er über dem Schnee. Da mußte er die rasende Fahrt abfangen. Der Schnee wurde feuchter und schwerer, keuchend preßte es ihm in den Schwüngen die Knie in den Boden. Aber er fing jeden Sturz auf. Der Sturm heulte um sein Gesicht, die Tiefe flog ihm entgegen.

Als er mit dem Lawinengang fast auf gleicher Höhe war, fing er die Fahrt knirschend ab. Jetzt hinüber — hinüber! Aber er kam durch das Strauchgewirr nicht rascher voran! Er keuchte; die Minuten aber tropften und tropften.

Endlich, da lagen die halbverwehten Fahrgeleise! Er riß die Skier herab und rannte bergan. Oben auf dem flacheren Almboden mußte er den Alten stellen können, hier her-unten war der Schlitten nicht mehr anzuhalten. — Aber er war noch nicht aus dem Hang, tauchte über ihm der Schlitten auf. In einem Gewölk von Schnee zischte er jäh herein.

„Halten — halten — der Lawinengang — die Brücke ist weg —!“ Thomas schrie, bis dis Stimme versagte. Peter sauste herab, er ver* stand gewiß kein Wort. Ein Blick — da! zischte die Fuhre vorbei.

Ein verzweifelter Sprung — Thomas hing verkrallt auf dem Stämmen. „Peter, spring heraus — die Brücke —!“ brüllte er Peter in die Ohren.

Jetzt verstand erbleichend der Alte. „Die Brücke? — Spring du zuerst!“

Ein Knirschen um die letzte Kehre — da hörte der Knecht einen sausenden Fall in die Erler.büsche — Thomas war abgesprungen.; Er zog die Beine an — die Fuhre hielt keiner mehr auf — ein Busch tauchte auf, da warf er sich schräg hangwärts aus der Fahrtrichtung. Etwas tiefer flog der Schlitten mit lautlosem Fall hinaus, erst Sekunden später hörten sie aus der Tiefe ein Splittern.

Der Alte und der Junge hatten Schrammen im Gesicht, als 6ie über die Lawinenrinne hinwegkletterten. „Siehst du, wie gut, daß ich dir nicht nachgegeben hab!“ lächelte der Knecht. Aber dann wandte er sein Gesicht und blickte mit verdächtig glänzenden Augen den steilen Weg hinauf, durch den wie ein Pfeil die Skispur des Jungen schnitt... m

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