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Die Antwort

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„Weshalb hast du mich zu deiner Frau gemacht?“ fragt Annette. Es ist die Frage ihres Lebens, Annette stellt sie trotzdem leise, kaum hörbar, mehr im Gedanken als im Wort. Ihr Blick hängt dabei an dem Schwerverletzten, der vor ihr liegt: -seine zerschlagene Stirn ist mit weißem Tuch umwunden, die Augen sind geschlossen, kein Atemzug ist wahrzunehmen. Alfred ist bewußtlos wie die meiste Zeit, seit die Berge- mannsebaft ihn aus dem Kar in die Hütte getragen, seit der Fernspruch die junge Frau mit höchster Eile kommen geheißen hat und sie in die Schutzhütte getreten ist, in deren eine, abseitige Stube man den Transportunfähigen gebettet hat.

„Kommen Sie, ruhen Sie eine Stunde, ich bleibe an Ihrer Stelle“, sagt der Arzt zu Annette. Er ist lautlos durch die Tür gekommen .und faßt die Frau an den Schultern, sie mit sanfter Gewalt zu zwingen. Aber Annette widersteht. „Danke, Doktor“, wehrt sie und bittet, sie nicht weiter zu bedrängen.

Und wieder stellt sie ihre Frage, und während unten im Erdgeschoß die Seilschaften aus den Wänden kommen — es geht dem Abend zu —, denkt sie dem Leben mit Alfred nach, dem Jahrzehnt mit den ungezählten Sorgen, der ständigen Ungewißheit, den wenigen, freilich heißen Augenblicken des Glücks. Sie sieht Alfred wieder, wįe er um sic wirbt, mit starkem Willen, dabei herb, beinahe kühl, als brauchte er sie und dürfte sich ihr doch nicht ganz ergeben, sie sieht ihn, wie er ihr als Frau die schönsten Blumen bringt, aber sie stammen von gefährlichen Wegen, die er immer wieder geht, trotz ihren Bitten und Tränen. Annette sieht auch Karl, den Freund, der nun tot und schon zu Tal gebracht ist. Ganz ähnlich war er Alfred, hatte dasselbe schmale Antlitz, die kühne Nase, die leuchtenden Augen. Annette denkt den Kriegsjahren nach, Alfred stieg von Rang zu Rang, aber es war kein Aufstieg der Gunst, der Liebedienerei, der Stäbe, es war ein Weg durch Gefahr und Bedrohung und Tod. „Annette“, bat Alfred dann, als er kaum ein Jahr daheim gewesen und sich wieder zu den Bergen gekehrt hatte, „Annette, es ist kein Spiel, ich kann nicht anders.“

„Liebtest du mich denn überhaupt?“ fragt Annette und beugt sich über das Antlitz des Bewußtlosen. Ihre Tränen fallen auf seine Lippen, sein Wangen, vielleicht wecken sie ihn. Ach, wie ein Sonnenstrahl den grauen Fels erhellt, so war es vor Stunden, als Alfred für Augenblicke zu Bewußtsein kam und Annette erkannte, ein Lächeln über seine Züge huschte und die Hand sich leicht, ganz leicht hob. „Alfred“, weint Annette, „Alfred“, mit der Wärme ihres Atems sucht sie den Bewußtlosen zu wecken, aber er regt sich nicht.

Und die Stunden vergehen. In der Hütte ist es still, die Gegenwart des Todes verhält die Gäste zum Schweigen. Der Arzt kommt und wiederholt seine vergebliche Bitte an die Frau, der Wirt bringt einen kleinen Imbiß; er geht auf bloßen Sohlen. Um Mitternacht erscheint der Priester aus dem Tal, er nimmt die heilige Handlung vor, ohne daß der Verunglückte es weiß.

Gegen den Morgen hin aber wird Alfred unruhig. Manchmal ist ein Atemzug zu hören, durch den Körper geht ein erkennbares Beben. „Ist das die Krisis?“ fragt Annette den Arzt. Dieser schüttelt den Kopf: hier gibt es keine Krisis mehr, hier kann es nur ein letztes Aufflackern des Lebens sein, bevor es zu Ende ist. Er sagt dies nicht, er nimmt die Hand Annettes und küßt sie, und dann verläßt er die Stube. Die Frau sieht ihm schweigend nach, einen Augenblick nur, denn wieder bewegt sich Alfred. Er wendet ein geringes den Kopf, Annette zu, und seine Lippen öffnen sich zu einem schmalen Spalt. Jetzt, denkt Annette, jetzt wird er auch die Augen aufschlagen und mich erkennen, das Lächeln wird wieder auf seinen Zügen sein, vielleicht nennt er mich beim Namen! Die Augen schlägt der Todwunde nicht auf, aber seine Hand beginnt zu zucken, als suchte sie etwas. Sie sucht Annette, die Frau weiß es, und das Herz will ihr brechen vor schmerzlidiem Glück, sie kniet hin an den Bettrand, daß die Hand sie erreichen kann, schmiegt gar ihr Gesicht daran; es ist Al-Freds rechte, die beinahe unverletzte Hand.

Und siehe, als die Fingerspitzen die warme Haut der Lippe fühlen, beginnen si zu liebkosen, tasten zitternd die Wange empor, rühren an dem Nasenflügel, finden die Augenhöhle, verharren eine lautlose Weile auf dem geschlossenen Lid, nehmen den Weg zur Stirn, zum Haaransatz, ersteigen den Scheitel, und nun sind es nicht mehr die Fingerspitzen, nun ist es die volle Hand, die sich stark und kräftig auf das Haar legt, als wollte sie ergreifen, umschließen, nie, nie mehr loslassen …

„Alfred!“ schluchzt Annette. Sie legt die Stirn an die Bettkante, daß die Hand des Geliebten auf ihrem Haupte bleiben kann. Warm fühlt sie es durch das Haar dringen, beinahe heiß, wie der Gatte kaum jemals in ihrem Leben sie umschloß, so lange, so innig. Annette sieht es nicht, aber sie weiß, daß nun das Lächeln des Erkennens, das Lächeln der Liebe, des Glücks, endlich auf Alfreds Zügen liegt, sie hört es nicht, aber fühlt, wie sein Mund einen Namen formt. Und Annette hat recht, das Antlitz des Sterbenden hat sich erhellt, seine Kehle zuckt und ringt, die Todesmüde zu überwinden. Es ist schwer, unendlich schwer, doch muß es sein, denn welche Botschaft hat Alfred zu sagen, während seine Hand immer fester, fester das Haupt Annettes umschließt:

„Karl“, sagt das letzte Zucken und Ringen der Kehle, das leise Lallen der Zunge, die verhauchende Bewegung der Lippen, „Karl“, sagt die brechende Stimme des Mannes dem Freund unten am Seil, „Karl, ich habe den Griff, ich habe den Griff, jetzt hält uns nichts mehr auf!“

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