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DIE FRANZSISCHE JACHT

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Nach langdauernden Überlegungen entschloß sich das Ehepaar, in diesem Jahr an die See zu reisen. Die Frau forderte die See so eigensinnig, als wäre sie ein Abkömmling der Wikinger. In Wirklichkeit war ihr Vater Bahnbeamter in Czegled.

Dies geschah im sechsten Jahr ihrer Ehe. Keiner von den beiden hatte bis dahin das Meer erblickt. Nun brach die Sehnsucht mit elementarer Gewalt, gleich einer Krankheit, in der Frau aus. Der Mann machte sich mit bissigem Humor über ihre Sehnsucht lustig.

„Liebste“, sagte er, „es ist die reinste Krankheit, Seekrankheit.“

Er vermochte jedoch gegen die Frau nicht aufzukommen. Sie lief in der Stadt herum, eilte ins Reisebüro, verhandelte, schrieb Briefe an Hotels in fernen Seebädern mit wunderlichen Namen, rechnete und kaufte ein. So erfuhren sie sehr bald, daß es unter den vielen Seebädern auch ganz billige, zweitklassige gab, mit familiärem Einschlag, viel Sand am Strand und Hotels, in denen man im Zimmer auf einem Spirituskocher das Abendessen zubereiten durfte. Denn sie verfügten nur über ganz geringe Mittel. Endlich erreichten sie so ein zweitklassiges und billiges Seebad. Sie kamen in der größten Hitze im Juli an. Bei Morgendämmerung erreichten sie das Meer.

Die Hotelzimmer waren ganz ordentlich, anständig möbliert. Sie packten aus, gingen dann zum Strand hinunter, promenierten Arm in Arm und bewunderten die See.

„Sie ist überall gleich“, sagte der Mann, wie um sich zu entschuldigen, seiner Frau nichts Besseres bieten zu können, „in Biarritz, in New York und auch in Dschibuti.“

Die Frau nickte zustimmend: „Überall unendlich.“

So trösteten sie sich gegenseitig. Am Ufer wuchsen Palmen, in deren Schatten braungebrannte Männer und Frauen in bunten Sommerkleidern lustwandelten. Es gab auch viele Kinder. Am Sandstrand boten Photographen ihre Dienste an. Auch das Ehepaar ließ sich mit dem Hintergrund von Palmen und Meer photographieren. Alles war genau so wie auf den Ansichtskarten, die ihre Bekannten, Mütter und zärtliche Familienväter, aus der Sommerfrische am Meeresufer gesandt hatten.

Schuldbewußt blickten sie auf das Meer, das doch wirklich nicht verantwortlich war. Sie fühlten sich als schuldlose Opfer, so, als hätte sich ihre Sehnsucht zu spät und in einer ganz anderen Weise erfüllt, als sie es erwartet hätten.

In der zweiten Woche ihrer Sommerfrische, an einem warmen, dunstigen Morgen, erblickten sie beim Erwachen ein schlankes, weißes Schiff, das in der Nacht im Hafen vor Anker gegangen war.

Im Hafen des kleinen verborgenen Badeortes erschienen selten seefahrende Schiffe. Die weiße Jacht lag vornehm und hochmütig weit draußen in der See. Am Heck flatterte die französische Trikolore im Wind.

„Eine Jacht“, sagte der Mann. Seine Frau stellte sich neben ihn, und so wie sie waren, zerzaust und schlaf trun--ken. starrten sje durch das, offene Hotelfenster. bnw'f

Dag feine, seltene Wort verklang und 'schwebte in der Luft gleich einem exotischen Vogel. Sie blickten nach dem schaukelnden weißen Schiff und schwiegen andächtig. Der Mann erinnerte sich dunkel an die Beschaffenheit einer Jacht und begann seiner Frau erregt zu erklären, daß eine Jacht, eine wirkliche Dampfj acht, eine dreißigköpfige Mannschaft benötige. So hatte er wenigstens einmal in einer illustrierten Zeitschrift gelesen.

Mittags wußten sie schon, daß es sich um ein Schiff von sechshundert Tonnen handelte, besser gesagt, daß der Schiffsrumpf so viel Wasser verdränge. Sie erfuhren auch, daß es keine Dampfjacht war, sondern daß sie von öl-turbinen getrieben wurde, eine besonders vornehme Eigenschaft in dieser Welt der Jachten. Das Schiff hatte Antennen, Masten, einen Schlot, und die Matrosen liefen auf Deck in Trikots herum. Sie beobachteten mit Feldstechern das Schiff und stellten fest, daß zum Schutz gegen die Mittagshitze Sonnensegel gehißt wurden. Dann ließ man ein glänzend braunlackiertes Motorboot vom schönen Schiff aufs Wasser herunter und vertäute es an das Fallreep, wie man ein Fohlen hinter das Fuhrwerk anbindet.

„Perfekt“, sagte der Mann aufgeregt und fachmännisch, als ob er von der Konstruktion und der gesamten Ausrüstung des seefahrenden Fahrzeuges etwas verstünde.

Als die Nacht anbrach, erglänzte das Deck der Jacht von Lichtern, wo, so stellte sich wenigstens die Frau vor, unter Girlanden von Leuchtkörpern Stewards in weißen Jacken den Damen im Abendkleid und den Herren im Smoking bei den Klängen einer Musikkapelle kühlende Getränke anboten, wo diese Auserwählten des Schicksals tanzten, traumverloren das Leben genossen und sich von diesem Luxusschiff sorglos auf der Oberfläche des Meeres und des Lebens schaukeln ließen.

Am ersten Tage entließ das Schiff aus seiner vornehmen Zurückgezogenheit seine Insassen nicht an Land. Die Gäste des Badeortes spazierten bis spät in die Nacht hinein am Strand entlang und bewunderten den seltenen Ankömmling. Niemand wußte, wer an Bord war, auch der Inhaber der Jacht war unbekannt. Selbst die Seeleute des Ortes wußten es nicht. Eine französische Jacht, meinten die Matrosen und Fischer achselzuckend. Daß sie einem reichen Mann gehörte, war ohne weiteres ersichtlich; vielleicht gehörte sie einem französischen Konservenfabrikanten oder einem Fürsten, der in seiner Langeweile hier herumsegelte und dann plötzlich, angewidert vom trostlosen Anblick der drittklassigen Hotelreihe, sich sorgfältig fernhielt von dieser kleinbürgerlichen Welt — draußen, in geziemender Entfernung.

„In der Frühe wird sie die Anker lichten“, sagten die Seeleute.

Dann erloschen die Schiffslichter, und alles ging zu Bett. Auch das Ehepaar ging langsam in Gedanken versunken nach Hause.

In ihrem kleinen, von der südländischen, stickigen schwarzen Sommernacht dumpf durchhitzten Zimmer konnten sie jedoch lange keine Ruhe finden. Die Frau war schön, noch immer schön. Der Mann begann zu altern, das Leben, die Sorgen und die Verantwortung hatten ihn mitgenommen. Die Frau sprach von alltäglichen Geschehnissen. Dann begann sie zu schwärmen.

„Wie kann das Leben auf so einer Jacht sein?“ fragte sie mit einem leisen Anklang von Beschuldigung in ihrer Stimme.

Der Mann murmelte etwas vor sich hin. Dann stritten sie sich.

„Es gibt auch ein anderes Leben“, rief die Frau kriegerisch ins Dunkel hinein. „Es gibt auch eine andere Welt. Die Jacht kam aus dieser anderen Welt. Es gibt eine Welt, wo man die Worte Haushaltsgeld, Miete, Ratenzahlungen und Pension nicht kennt. Es gibt eine Welt, in der die Menschen mit der gleichen selbstverständlichen Nonchalance im Sommer an Bord ihrer eigenen Jacht gehen, wie wir gewöhnlich Sterblichen bei Regenwetter Gummischuhe anziehen“, sagte sie. „Da liegt jetzt die Jacht, ganz nahe — wir sehen sie genau. Wem gehört sie? Vielleicht einem alten, weisen, wunschlosen Menschen, oder vielleicht einem siegreichen, jungen und begabten Abenteurer, der in See sticht, um die Welt zu erobern.“

„Wovon sprichst du denn eigentlich?“ fragte der Mann plötzlich nervös. „Ich kann dir doch keine Jacht kaufen. Wir haben ja noch nicht einmal deinen Pelz bezahlt.“

Die Frau unterbrach ihre sinnlose, erregte und trotz der Sinnlosigkeit grausame Anklagerede. Sie verstummte erschrocken wie jemand, der eine unheilvolle Wahrheit ausgesprochen hat.

„Ich spreche von der Jacht“, sagte sie mit Angst in ihrer Stimme, „vom französischen Schiff.“

Sie warf einen letzten Blick auf das sich gegen die blauschwarze See im Mondschein silbrig abhebende Schiff, wo mysteriöse Existenzen lebten, Eroberer und Genießer, Sorglose und Verantwortungslose, Andersgeartete — dachte sie, schon halb im Schlaf, mit einem kleinen schmerzhaften Lächeln — wirkliche Menschen.

In der Frühe lag das Schiff noch immer auf dem gleichen Fleck. Ein Sonntagsmorgen brach an mit goldener Pracht, zum glitzernden hellblauen Fest.

Möwen und Glockengeläut schwebten in der Luft.

Und plötzlich begann das braune Motorboot knatternd die Insassen der Jacht in kleinen Gruppen nach dem Festland zu befördern. Die Frau saß vor dem Spiegel und kämmte sich die Haare, als der Mann aufgeregt zum Fenster eilte und rief:

„Schau hin“, schrie er überrascht, heiser und siegesbewußt. „Die andere Welt! Mein Gott...!“

In seiner Stimme klangen Bestürzung, Begeisterung und kaum glaubhaftes Entzücken. Die Frau warf den Kamm auf den Tisch und trat zum Fenster. Es hätte sie nicht überrascht, einen morgenländisch-exotischen Zug zu erblicken, mit Kamelen, weißen Elefanten, mit in Purpur gehüllten und Perlen behangenen Maharadschas. Was sie aber in Wirklichkeit sah, überraschte sie mehr als alle lebendig gewordenen Wunder aus Tausendundeiner Nacht.

Vom Motorboot stiegen Nonnen ans Land, weißbehäubte Nonnen im blauen Habit, alte, dicke, bebrillte, junge und hübscbe; sie lächelten glücklich däs'GebetbuCh in der Hand, und'“erwarteten ihre nachkommenden Schwestern. Die von ihreri-LeÜden herabhängenden-Rosenkränzeklapperten an langen Schnüren.

Der Mann und die Frau am Fenster starrten entgeistert auf die Jacht.

„Ja“, wiederholte der Mann, „es gibt auch eine andere

Welt.“

Sie konnten einander nicht in die Augen blicken.

Nachmittags lichtete die französische Jacht die Anker und stach mit den guten Schwestern, über die man sodann alles erfuhr, in See. Ein sehr religiöser französischer Prinz hatte die Jacht für diese Fahrt einem bekannten Pariser Orden zur Verfügung gestellt. Die guten Schwestern waren mit dem schönen Schiff auf einer Pilgerfahrt nach dem Gelobten Land begriffen, der ganze Orden unter Führung der Mutter Oberin.

„Alles ist anders, als man es sich vorstellt“, sagte belehrend der Mann.

Beim schwarzen Kaffee auf der sonnigen Hotelterrasse sprachen alle dann über die Nonnen. Nur die Frau schwieg.

Sie blieben noch zwei Wochen. Von der Jacht sprachen sie nie mehr. Braungebrannt, ausgeruht und gesund kehrten sie heim. Die zu Hause Gebliebenen, die Familie und die Freunde, befragten sie über ihre Reiseeindrücke. Sie berichteten wahrheitsgemäß und ausführlich. Nur über die Jacht schwiegen sie sich aus.

Die Zeit verging, an die See fuhren sie nie mehr. Sie konnten sich eine Reise nicht mehr leisten, und die Frau drängte auch nicht mehr. Die schöne Frau wurde allmählich alt, sie alterte schweigend, geduldig und ohne zu hadern.

Eines Tages bekam sie einen Fieberanfall und begann irrezureden. Zuerst pflegte sie ihr Mann mit Hilfe der Verwandten. Als aber am sechsten Tag die Krise nahte, da ließen sie auf Anraten des Arztes eine Krankenschwester holen, eine gewissenhafte, fachkundige Nonne, die sofort die Herrschaft über das Krankenzimmer übernahm. An diesem Abend hatte die Kranke einige lichte Momente, sie erkannte ihren Mann, das Zimmer und starrte lange in das fremde, gleichgültige Gesicht der Schwester. Dann rief sie mit einer kraftlosen Handbewegung ihren Mann zu sich und flüsterte mit ihren blutleeren Lippen:

„Die Jacht. Erinnerst du dich ...?“

Der Mann nickte mit Tränen in den Augen. Gegen Mitternacht verschied sie. Der Arzt nahm den Gatten am Arm und führte ihn ins Nebenzimmer. Da saßen sie, Erinnerungen auffrischend, bis zum Tagesanbruch.

„Die Arme“, sagte der Arzt. „Um Mitternacht sprach sie noch. Sie sagte, die Jacht. Habe ich es richtig verstanden?“

Der Mann weinte, steckte sich eine Zigarette an und sinnierte vor sich hin. „Die Ärmste. Einmal war es ihre Sehnsucht, mit ' einer Jacht eine Reise unternehmen zu können. Dann erfuhr sie aber, daß alles anders ist als in der Einbildung.“ Er verstummte, und als ob jetzt in diesem Augenblick eine Erleuchtung über ihn gekommen wäre, starrte er betroffen vor sich hin, den Mund halb offen, den Blick in die Ferne, in das unbegreifliche Zeitlose gerichtet, als sähe er ein weiß-goldenes Schiff entschwinden. Nun begriff er auch, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, er verstand den Sinn ihres gemeinsamen Lebens und den eigentlichen Zweck von alledem.

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